In Argentinien kennt jeder „Alfonsina“. Nun erscheint erstmals eine deutschsprachige Werkausgabe der Dichterin.
Geboren wurde Alfonsina Storni 1892 in einem kleinen Dorf in der italienischen Schweiz, doch gingen die Eltern schon bald nach Argentinien, wo sie aufwuchs. Der Vater starb früh, was für junge Mädchen in der Provinz außer Gelegenheitsarbeiten in den Fabriken praktisch nur eine Möglichkeit des Geldverdienens ermöglichte, nämlich ein Studium als Grundschullehrerin. 1910 erhielt sie ihr Lehrerinnendiplom, doch konnte sie 1913 ihre ersten Gedichte in der berühmten Wochenzeitschrift Caras y caretas publizieren. In den nächsten zwanzig Jahren wurde sie zunehmend die wichtigste Stimme einer weiblichen Avantgardelyrik in Argentinien. Doch verfasste sie auch Theaterstücke, kurze erzählerische Texte und journalistische Arbeiten.
Während Gedichtauswahlen auch schon seit den 1980erJahren auf deutsch erschienen – immer in kleineren Schweizer Verlagen –, beginnt die erste deutsche Werkausgabe, die auf vier Bände und eine zweibändige Biografie angelegt ist, mit kurzen Prosatexten.
Chicas – Kleines für die Frau, der erste Band, den Hildegard Keller für die Züricher „Edition Maulhelden“ herausgegeben und übersetzt hat, zeigt dabei noch nie auf deutsch veröffentlichte Facetten ihres Werks. Vom März 1919 bis März 1920 war Storni nämlich als Kolumnistin für die Wochenzeitschrift La Nota tätig und übernahm im Auftrag des Herausgebers Emir Emin Arslan die Rubrik „Feminidades“ (später „Vida femenina“). Gleich der erste Text schlägt den ironischen Ton an, den sie alle Jahre über durchhält: sie macht sich, während sie ihre Rubrik füllt, zugleich über diese – und vor allem über deren Titel – lustig. Ehrenwerte Rubriken seien die traditionellen Frauenseiten, „die man [also der Herausgeber] der Freundin anvertraut, mit der man nichts Rechtes anzufangen weiß und die empfohlen worden ist“.
Für Storni ist es hingegen die Gelegenheit, Schlaglichter auf die Situation der Frau in der argentinischen Moderne zu werfen: auf die schlecht bezahlten Telefonistinnen, die noch schlechter bezahlten Näherinnen und Stopferinnen, auf die Aquarellmalerinnen, die in einer Fabrik mit jeweils einem Pinselstrich ein Element der farbigen Dekoration (z.B. „blauer Himmel“) auf einen Fächer malen.
Ein weiteres Jahr lang (1920/21) schreibt sie die ‚Frauenseite‘ von La Nación und versucht wiederum, zwischen Werbung und Kochrezepten neue Themen zu etablieren und vor allem die soziale Situation junger Frauen in der Großstadt zu beleuchten. Hildegard Keller übersetzt 42 dieser journalistischen Texte, darunter zwei neuaufgefundene und in der Gesamtausgabe nicht enthaltene – nicht zuletzt der vollständige Bestand von La nota (die 1921 ihr Erscheinen einstellte) im IAI hat diese Funde erst ermöglicht. Schön ist, dass auch Teile des Umfelds abgedruckt werden, in dem die Kolumnen erschienen: Werbeanzeigen, mit denen die Zeitschriften ihren Druck finanzierten.
Neben Chicas ist auch Cuca – Geschichten mit Texten erschienen, die zumeist aus demselben Publikationsumfeld stammen; ein Band mit Theaterstücken und ein weiterer mit Briefen und Interviews sollen noch in diesem Jahr dazukommen. Eine zweibändige Biografie mit Fotografien und Dokumenten durch Hildegard E. Keller soll dann im nächsten Jahr die Lebensgeschichte Stornis im Detail darstellen. Erstmals wird hier in der Übersetzung eine der stärksten weiblichen Stimmen der lateinamerikanischen Literatur im frühen 20. Jahrhundert zugänglich.
Bildmontage: ©Hildegard Keller