Antígona González

In der Provinz Tamaulipas, die mit inzwischen mehr als sechstausend Verschwundenen einen traurigen Rekord hält, meldete sich 2012 die Lyrikerin Sara Uribe mit einem Theatermonolog zu Wort, in dem der antike Antigone-Stoff im Kontext des Narco-Kriegs eine Umdeutung erfährt. Um ihren Bruder beerdigen zu können, muss ihn Uribes Antígona González erst einmal finden. denn ihr Bruder ist einer von inzwischen über 40.000 Verschwundenen in Mexiko. Sara Uribe verwebt Antigonas Monolog mit Zeitungsmeldungen von Leichenfunden und dem Chor, in dem die Stimmen der anderen widerhallen. Uribes Antigone  stößt bei ihrer Suche auf die üblichen Vorurteile, die den Angehörigen von Verschwundenen jahrelang entgegengebracht wurden.  Das größte Unverständnis erntet sie jedoch in ihrer eigenen Familie, die ihr Rücksichtslosigkeit vorwirft, weil ihre Suche die ganze Familie belaste. Als Uribes Antigone von den Toten in San Fernando hört, sucht sie dort nach ihrem Bruder.  In San Fernando wurden im August 2010 auf einer Farm 72 Leichen von Migranten aus Zentral- und Südamerika gefunden. Im März 2011 wurden am gleichen Ort noch einmal Dutzende von Massengräbern ausgehoben und 193 Kadaver geborgen. Nach den Leichenfunden in San Fernando konnte die mexikanische Regierung die Toten und Verschwundenen des Drogenkriegs nicht mehr als Mitglieder des organisierten Verbrechens abtun. Denn die 193 Leichen waren die von Passagieren, die in der Provinz Tamaulipas aus öffentlichen Bussen heraus entführt und anschließend umgebracht worden waren.

Während man in San Fernando noch damit beschäftigt war, die Massengräber auszuheben, wurden mehrere hundert Kilometer entfernt im Bundesstaat Morelos die Leichen des 24-jährigen Studenten Juan Francisco Sicilia Ortega und die von fünf seiner Freunde in einem Auto aufgefunden. Die Morde trugen die Handschrift der Narcos. Juan Francisco Sicilia Ortega war der Sohn des mexikanischen Schriftstellers Javier Sicilia, der daraufhin eine Bewegung gründete, die unter massenhafter Anteilnahme Würde und Gerechtigkeit für die Opfer forderte.    Der Dichter war nach dem Tod seines Sohnes zum Aktivisten geworden. Es fiel Sara Uribe zu, den lyrischen Text dazu zu schreiben. Ausgerechnet aus Tamaulipas, der abgeschiedenen Region im Nordosten Mexikos, aus der kaum noch etwas nach außen drang, weil alle Journalisten zum Schweigen gebracht worden waren, ausgerechnet von dort war nun ein Text zu hören, in dem sich die Bevölkerung des ganzen Landes wiederfand.  Seit seiner Uraufführung am 29. April 2012 in Tampico, Tamaulipas, wird Sara Uribes Stück in allen Provinzen des Landes aufgeführt.

Am Montag, den 3. Februar 2020, ist die mexikanische Schriftstellerin Gabriela Riveros zu Gast im Ibero-Amerikanischen Institut. Sie liest aus ihrem Roman Destierros (2019), in dem sie  das mexikanische Drama der Verschwundenen und Vermissten in der nächsten Generation weitererzählt.

Gabriela Riveros | Destierros | 3. Februar 2020, 18 Uhr |Simón Bolívar-Saal, Ibero-Amerikanisches Institut, Potsdamer Straße 37, 10785 Berlin | Sprache: spanisch | Eintritt frei.

Foto: ©Jeanette Erazo Heufelder

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