2019 jährt sich zum 25. Mal die Städtepartnerschaft zwischen Buenos Aires und Berlin. Wir nehmen dies zum Anlass, um an zwei andere Daten zu erinnern.
1939, vor genau achtzig Jahren, ist die Berliner Jüdin Ruth Weisz nach Argentinien emigriert. Knapp vierzig Jahre später wurde ihr in Argentinien geborener Sohn Marcelo mit Frau und Kind in Buenos Aires auf offener Straße von den Militärs entführt.
Der 1952 geborene Marcelo Weisz arbeitete 1976 zum Zeitpunkt des Militärputsches in einer Bank in Buenos Aires und engagierte sich in der Gewerkschaft. Seine Frau Susana war in einer der vielen Basisgruppen aktiv, die in Argentinien in den Jahren vor dem Putsch wie Pilze aus dem Boden schossen. Marcelo Weisz und seine Frau Susana bekamen ein Jahr nach dem Putsch einen Sohn. Am 16. Februar 1978 wurden sie zusammen mit ihrem Kind auf offener Straße entführt.
In ihrem Fall wandten die Schergen des Regimes eine besondere Art der Folter an: Sie simulierten normale Familientreffen und lieferten das Baby bei den Großeltern mütterlicherseits ab. Auch für Marcelo Weisz und seine Frau öffneten sich einmal die Woche die Gefängnistore, wenn sie samstags von ihren Folterern für ein oder zwei Stunden zu Marcelos Eltern gebracht wurden. Dort mussten sie sich in Gegenwart ihrer Peiniger durch stockende Unterhaltungen mit ihren Angehörigen quälen, in denen nur Belanglosigkeiten ausgetauscht werden durften, bis es wieder zurück in den ehemaligen Busbahnhof ging, der nun als Geheimgefängnis diente und den Namen des griechischen Göttersitzes trug: El Olimpo – der Olymp.
Ruth Weisz informierte die Deutsche Botschaft in Buenos Aires über die Besuche ihres Sohnes. Sie und ihr Mann hatten sich – wie auch die beiden älteren Söhne – in den Sechzigerjahren wieder in Deutschland einbürgern lassen. Marcelo hatte die Wiedereinbürgerung erst später beantragt, als bereits die Militärs an der Macht waren. Bevor er die Einbürgerungsurkunde abholen konnte, wurde er verhaftet.
Am 29. Januar 1979 erhielt Ruth Weisz einen Anruf von ihm. Ihr Sohn teilte ihr mit, dass die Besuche in den nächsten Wochen ausfallen müssten. Es war das letzte Mal, dass Ruth Weisz etwas von ihm hörte.
Im Juni 1981 wurde von der Deutschen Botschaft die Einbürgerungsurkunde mit dem Vermerk nach Deutschland zurückgeschickt, dass Marcelo Weisz vermutlich nicht mehr am Leben sei.
Nachdem Raúl Alfonsín am 30. Oktober 1983 die ersten demokratischen Wahlen in Argentinien gewonnen hatte, setzte er eine Kommission ein, die das Schicksal von Tausenden von Verschwundenen untersuchte. Strafverfahren gegen die Junta-Generäle wurden eröffnet. Der Staatsterror in seinen Einzelheiten beschrieben.
Damit war Argentinien weltweit das erste Land, in dem eine demokratisch gewählte Regierung die Menschenrechtsverbrechen der Vorgängerregierung aufarbeitete und strafrechtlich verfolgte.
In ihrem Abschlussbericht zog die Kommission 1984 eine erste Bilanz: Knapp 9000 Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens waren bisher gemeldet worden. Rund hundert der Opfer kamen aus Deutschland. Ein Drittel davon waren Nachkommen deutsch-jüdischer Emigranten. Auch landesweit war der Anteil jüdischer Opfer überproportional hoch. Über zwölf Prozent aller Verschwundenen gehörten zur jüdischen Gemeinde, obwohl der Anteil der Juden an der argentinischen Bevölkerung nicht einmal ein Prozent ausmachte. Sie verschwanden nicht, weil sie Juden waren, sondern weil sie sich – als Nachkommen von Verfolgten der Gefahren von Diktaturen bewusster als andere – politisch und gesellschaftlich stärker engagierten.
In den Prozessen gegen die Führungsriege wurden die Urteile gesprochen. Ex-Präsident Jorge Rafael Videla und Junta-Mitglied Emilio Massera erhielten lebenslange Haftstrafen. Das Militär reagierte auf die Urteile mit Tumulten. Um Ruhe zu schaffen, erließ Präsident Alfonsín 1986 das Schlusspunktgesetz. Damit wurde weiteren Anzeigen eine enge Frist von nur wenigen Wochen gesetzt. Zusätzlich zum Schlusspunktgesetz wurde 1987 das Gesetz über die Gehorsamspflicht auf den Weg gebracht, das sich auf das Argument stützte, weite Teile des Militärs hätten die Verbrechen auf Befehl ihrer Vorgesetzten ausgeführt. Knapp drei Jahre später wurden unter Carlos Menem, Alfonsins Nachfolger im Amt des Präsidenten, auf dem Weg einer allgemeinen Amnestie schließlich auch die bereits verurteilten Militärs begnadigt und aus der Haft entlassen.
Die Akten waren geschlossen. Die Ermittlungen eingestellt. Die Mörder und Folterer fühlten sich vor Verfolgung sicher und begannen, der Presse Interviews zu geben, in denen sie offen über ihre schmutzige Rolle während der Militärdiktatur sprachen. Marcelos Mörder brüstete sich im Fernsehen mit seiner Tat.
»Solange die Täter frei herumlaufen, kann unsere Demokratie nicht funktionieren«, sagte der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel.
Das internationale Strafrecht gab den Angehörigen von Opfern europäischer Herkunft die Möglichkeit, die argentinischen Militärs in ihren Herkunftsländern vor Gericht zu bringen. Auch eine kleine Gruppe deutsch-jüdischer Angehöriger – unter ihnen Ruth Weisz – erklärte sich bereit, die Fälle ihrer verschwundenen Kinder in Deutschland anzuzeigen. Auf Anregung Perez Esquivels‘ schloss sich 1998 in Deutschland eine Gruppe Anwälte, Menschenrechtsaktivisten und Kirchenvertreter zur Koalition gegen Straflosigkeit in Argentinien zusammen und leitete die Aufnahme der juristischen Strafverfolgung argentinischer Militärs in Deutschland in die Wege.
Doch noch bevor die Ermittlungen aufgenommen wurden, sollten die Verfahren der deutsch-jüdischen Fälle bereits eingestellt werden. Die Nürnberger Staatsanwaltschaft sah sich nicht für sie zuständig. Die Opfer waren keine Deutschen. Keiner von ihnen hatte einen Antrag auf Wiedereinbürgerung gestellt.
Im Unterschied zu anderen Gesetzen der Nazizeit, bei denen der Gesetzgeber nach einer Nichtigkeitserklärung wieder ihren ursprünglichen Rechtszustand vor der Nazigesetzgebung hergestellt hatte, mussten unrechtmäßig ausgebürgerte Juden und ihre Nachkommen die Wiedereinbürgerung von sich aus beantragen. Man wollte verhindern, dass sie ungefragt und gegen ihren Willen wieder zu Deutschen wurden. Marcelo Weisz hatte diesen Antrag von sich aus gestellt. Deshalb zählte sein Fall für die Koalition gegen Straflosigkeit zu den Fällen deutschstämmiger Opfer der argentinischen Militärdiktatur, für welche die Zuständigkeitsfrage der deutschen Justiz geklärt war.
Aus Juristenkreisen wurde Kritik an der Nürnberger Entscheidung laut. Der 24. Strafverteidigertag forderte in einer Resolution die Fortführung der deutsch-jüdischen Verfahren. Schließlich beugte sich die Staatsanwaltschaft dem Druck und beschloss, die endgültige Entscheidung über die deutsch-jüdischen Fälle auf später zu vertagen.
Am 28. 11. 2003, zwanzig Jahre nach dem Ende der argentinischen Militärdiktatur, traf die deutsche Gerichtsbarkeit eine historische Entscheidung. Sie erließ wegen der Morde an Klaus Zieschank und Elisabeth Käsemann internationale Haftbefehle gegen alle noch lebenden Mitglieder der argentinischen Militärjunta. Erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte wurde gegen einen ausländischen Staatspräsidenten a.D. ein Haftbefehl wegen der Menschenrechtsverbrechen erwirkt, die in seiner Amtszeit begangen worden waren.
Die Verurteilung der Junta-Verbrechen durch die europäische Justiz – auch Spanien, Italien und Frankreich hatten Auslieferungsanträge gestellt – trug schließlich mit dazu bei, dass die Regierung Néstor Kirchners 2005 die Amnestiegesetze aufhob und die Strafverfahren wieder ins Rollen brachte.
Beinahe unter ging bei dieser Nachricht, dass zeitgleich alle anderen Verfahren eingestellt wurden, zu denen die Koalition gegen Straflosigkeit Strafanzeigen eingereicht hatte. Wegen Verjährung, nicht gegebener Zuständigkeit seitens der deutschen Justiz oder dem fehlenden Endbeweis, dass es tatsächlich Mord war. Es gab keine Leichen.
Bei den deutsch-jüdischen Fällen ist die Staatsanwaltschaft nicht von ihrem ersten Urteil abgewichen. Auch im Fall Marcelo Weisz wurde keine Ausnahme gemacht. Er sei zwar ohne eigenes Verschulden verhindert gewesen, die Wiedereinbürgerungsurkunde in Empfang zu nehmen. Es hätte aber keinen Hinderungsgrund gegeben, den Antrag schon früher einzureichen.
Foto: Gedächtniswand mit den Fotos von während der Militärdiktatur Verschwundenen; in der Esma, der ehemaligen Marineschule in Buenos Aires, heute ein Ort des Erinnerns ©Jeanette Erazo Heufelder