Wie kein anderer versinnbildlicht Gilberto Bosques, mexikanischer Generalkonsul in Marseille von 1940 bis 1942, den Mythos des solidarischen und aufnahmebereiten Mexikos, das zu einem Zeitpunkt, in dem der Welt das Schicksal der europäischen Juden und politisch Verfolgten gleichgültig war, viele zehntausend Exilsuchende ins Land ließ. 2005 wurde Gilberto Bosques deshalb von der New Yorker Raoul Wallenberg-Stiftung der Titel eines ‚Helden‘ zugesprochen. 2006 wurde er für den Ehrentitel eines ‚Gerechten unter den Völkern‘ vorgeschlagen, mit dem Israel nichtjüdische Einzelpersonen auszeichnet, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft ihr Leben einsetzten, um Juden vor der Ermordung zu retten. Bosques‘ Name tauchte auch in ‚Visas for Life‘ auf, einem Gemeinschaftsprojekt von Yad Vashem und dem Simon-Wiesenthal-Zentrum, mit dem speziell jenen mutigen Diplomaten historische Anerkennung gezollt wurde, die sich nach der Konferenz von Evian 1938 den restriktiven Einwanderungsbestimmungen ihrer Länder widersetzten. So wurde schließlich die mexikanische Historikerin Daniela Gleizer auf Bosques aufmerksam.
Seit mehr als zwanzig Jahren forscht Gleizer, die als Professorin an der Universidad Autónoma Metropolitana in Mexiko Stadt lehrt, zur kulturell und politisch heterogenen jüdischen Minderheit Mexikos. Auf den Namen Bosques war sie in den Quellen, die sie hinsichtlich des mexikanischen Umgangs mit Jüdinnen und Juden aus Deutschland, Österreich und den von Nazis besetzten Ländern Europas untersuchte, bis Mitte der 2000er Jahre nie gestoßen, obwohl Gilberto Bosques in Marseille zuständig für die Visavergabe an die vom Nationalsozialismus verfolgten europäischen Juden war. Stattdessen stellte sie nun, als sie sich näher mit ihm beschäftigte, fest, dass Gilberto Bosques die restriktiven Einwanderungsgesetze Mexikos im Fall jüdischer Flüchtlinge besonders eng ausgelegt hatte. Von allen Staaten des lateinamerikanischen Kontinents hat nämlich Mexiko in Proportion zur Größe des Landes die wenigsten jüdischen Flüchtlinge aufgenommen: gerade einmal eintausendfünfhundert bis zweitausend. Gilberto Bosques selbst hat jüdischen Antragstellern exakt 388 Visas ausgestellt. Zum Helden macht ihn das nicht, so Gleizer. Bosques sei ein Funktionär gewesen, der seine Arbeit der politischen Linie seines Landes gemäß erledigte.
Am 24. April 2019 stellt Prof. Daniela Gleizer im Simón-Bolívar-Saal des IAI die Erkenntnisse ihres Quellenstudiums zu Gilberto Bosques vor, die in Mexiko eine heftige Kontroverse auslösten. Weiterer Gesprächsgast ist der mexikanische Politologe Zirahuén Villamar, der die zeitpolitischen Zusammenhänge erklärt.
De la apertura al cierre de puertas. La política inmigratoria de México durante la Segunda Guerra Mundial | Vortrag mit anschließendem Gespräch | Moderation: Peter B. Schumann | Sprache: spanisch, español | Mittwoch, 24. 4.2019, 18.00 h, Simón-Bolívar-Saal, Potsdamer Straße 37, 10785 Berlin | Eintritt frei
Eine Veranstaltung der ‚Freunde des IAI‘
Foto: Gilberto Bosques via Wikimedia Commons