Gleich zwei Veranstaltungen im IAI demonstrieren, dass archivarische Tätigkeit alles andere als eine staubtrockene Angelegenheit ist.
Wer bei dem Begriff Archiv an fensterlose Räume denkt und an Akten und Dokumente, die – einmal registriert und abgelegt – in solchen Räumen als bloßer Bestand in Regalen dahindämmern, der befindet sich nicht auf der Höhe der Zeit.
Das lange als bloßes Verwaltungshandeln empfundene und mit historischen Staatsarchiven verknüpfte Archivwesen ist in den Geistes- und Kulturwissenschaften ins Zentrum des Interesses gerückt. Denn die vielbeschworene Einheit von Theorie und Praxis – hier wurde sie tatsächlich Wirklichkeit, seit der „Materialaspekt“ der Archivwissenschaft eine Aufwertung erfuhr und die immer leicht bieder wirkende Forschungsinstitution in einen lebendigen Forschungsgegenstand verwandelte.*
Da Archive häufig Sammlungen bergen, stellt sich für die Forschung automatisch die Provenienzfrage. Und selbst wo sie – wie im Fall historischer Staatsarchive – eher systemisch aufgebaut sind, lassen sich an ihnen – wie an den Jahresringen eines Baums – die politischen Brüche der Zeit ablesen. Beidem, der Frage nach Provenienz und zeitgeschichtlichem Kontext, geht archivarische Forschung heute nach. Inwieweit sich dadurch das kulturelle und politische Gedächtnis einer Gesellschaft am Leben erhalten lässt, hängt davon ab, wie sehr wiederum Archive ihrer gesellschaftlichen Rolle nachkommen.
Von den Problemen, die sich ergeben, wenn sich Archive dieser Rolle entziehen und sich als Siegelbewahrer semikolonial erworbener Kulturschätze verstehen, berichten die bolivianischen Orchesterleiter und Musikwissenschaftler Carlos Gutiérrez und Tatjana López. Sie sind bei ihrer Forschung zu Musik der Kallawaya der Provenienzfrage nach- und noch einen Schritt weitergegangen. Denn bei den Kallawaya fanden sie eine besondere Musik, die tuaillu heißt und schon mehr als 40 Jahre nicht mehr gespielt wurde. Entdeckt haben die Forscher einige Aufnahmen dieser Musik allerdings nicht vor Ort, sondern in einem Archiv in Paris. Da Kopien der Aufnahmen, die ein französischer Ethnologe einst bei seiner Feldforschung in Bolivien aufgenommen hatte, für die Forscher unerschwinglich teuer waren, fertigten Tatiana López und Carlos Gutiérrez im Pariser Archiv Raubkopien an und brachten diese zum Ursprungsort nach Bolivien zurück. Genauer: nach Upinhuaya, einer indianischen Dorfgemeinde in der Region Charazani nordöstlich des Titicacasees. Wie es weiterging, nachdem die dortige Gemeinschaft, die bis auf drei Melodien alles vergessen hatte, ihre alten tuaillu-Aufnahmen wieder hörte, davon handelt der Vortrag in spanischer Sprache, den López und Gutiérrez am 26. November im Simón-Bolívar-Saal halten.
Acciones de desarchivo: la experiencia del Tuaillu de Upinhuaya |Montag, 26.11.2018, 18.00 Uhr |Simón-Bolívar-Saal, Ibero-Amerikanisches Institut, Potsdamer Straße 37, 10785 Berlin | Sprache: spanisch | Eintritt frei
Wer sich vorab über die Hintergründe ihres musikethnologischen Ansatzes informieren möchte, dem sei das Interview in den Lateinamerika Nachrichten empfohlen.
Nicht weniger interessante Erkenntnisse, wenngleich auf völlig anderem Gebiet, verspricht der Vortrag, den der Brasilianist und Musikologe Dr. Vinicios Mariano de Carvalho vom King’s College (London) am 6. Dezember präsentieren wird. Im Rahmen der kleinen von den Freunden des IAI veranstalteten Brasilien-Reihe, spricht Vinicios de Carvalho über Musik unter der Militärdiktatur. Um zu untersuchen, wie die Mechanismen der Zensur während der brasilianischen Militärdiktatur funktionierten und welche Praktiken die Zensoren im Einzelnen anwandten, ist auch er in die Archive marschiert. Anhand von Archivdokumenten, die unter anderem in Zusammenhang stehen mit den während der Diktatur verbotenen Liedern so berühmter brasilianischer Sänger wie Chico Buarque, Gilberto Gil und Caetano Veloso, untersucht Vinicios de Carvalho, ob sich in der Zensur der brasilianischen Militärs ein methodisches Verfahren erkennen lässt oder ob sie auf subjektiven Kriterien beruht.
Brasilien: Musik unter der Diktatur | Donnerstag, 6.12.2018, 18.00 Uhr | Simon-Bolívar-Saal, Ibero-Amerikanisches Institut, Potsdamer Straße 37, 10785 Berlin | Sprache: deutsch | Eintritt frei
*siehe hierzu: Lepper Marcel, Raulff Ulrich (Hrsg), Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart, 2016.
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