Die Biografie eines Romans: „La ciudad y los perros“

Kann man die Biografie nicht nur einer Person, sondern auch die eines Buches schreiben?

Von Thomas Bremer

Für den deutschen Bereich hat eine Forschergruppe um Ulrike Gleixner und Jörn Münkner von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel eine Antwort gefunden: ihre ‚Buch-Biografien‘ verstehen sie als Lebensgeschichte einzelner Exemplare eines gedruckten Texts, als Geschichte der Interaktion eines Buches mit seinen Besitzern, seinem Schicksal durch die Zeit.

Der peruanisch-nordamerikanische Sozialhistoriker Carlos Aguirre nimmt einen anderen Weg. In seiner „Biografia de una novela“  berichtet er über die verschlungenen Wege von Vargas Llosas inzwischen klassischem Roman La ciudad y los perros, bis dieser Anfang 1963 erscheinen konnte –  ‚Biografie‘ also eher verstanden als Nachzeichnung einer (verwickelten) Entstehungsgeschichte, und zwar in der Interaktion unterschiedlichster historischer Personen. Das ist möglich, seitdem zum einen der größte Teil von Vargas Llosas persönlichem Archiv an der Universität Princeton aufbewahrt wird und zum anderen in Madrid die Zensurakten der Franco-Zeit einsehbar sind. Beide Bestände (sowie eine große Anzahl inzwischen zugänglicher Briefe) führt Aguirre in seinem faszinierenden Buch zusammen.

In den frühen 60er Jahren war Vargas Llosa noch weitgehend unbekannt; um die Veröffentlichung seines ersten umfangreichen Romans musste er kämpfen. In Peru selbst, aber auch von den großen Verlagen in Mexico und Argentinien gab es Absagen. Erst ein Kontakt zu Carlos Barral, dem Inhaber von Seix Barral in Barcelona, erwies sich als erfolgreich.

Aguirre berichtet zunächst von den Lebensumständen von Vargas Llosa, der damals in Paris lebte, (also eine Biografie des Autors in seinen frühen Jahren; Vargas, geboren 1936, war noch unter 30) und zeichnet auch dessen Eintreten für die cubanische Revolution nach, bis er sich in den frühen 1970er Jahren bekanntlich spektakulär von ihr abwandte.

Dann zeigt er, wie Carlos Barral – fasziniert von dem Roman um die Kadettenschule in Lima – alle möglichen Tricks anwandte, um die Veröffentlichung in seinem Verlag zu ermöglichen – schließlich befinden wir uns mitten im Franquismus, noch mehr als ein Jahrzehnt vor Francos Tod. Das Kapitel über die Verhandlungen mit der Zensur ist daher besonders interessant.

Die spanischen Zensurbeamten hatten für eine mögliche Veröffentlichung Unmengen von Änderungsauflagen erlassen, sich an den sexuellen Stellen, an den sehr alltagssprachlich getönten Dialogen der Protagonisten, am politisch für spanische Verhältnisse heiklen Bereich der Darstellung des Kasernenlebens gestört. Barral gelang es in Verhandlungen mit dem obersten Zensurverantwortlichen Robles Piquer, dass dieser die meisten Verfügungen seiner Untergebenen zurücknahm und nur noch auf relativ wenigen Änderungen bestand. 1962 war Spanien spektakulär die Aufnahme in die EWG verwehrt worden, weil es keine legitime Regierung habe; das Regime wollte unbedingt jeden weiteren öffentlichen Anschein von ideologisch begründeten Einschränkungen des Kulturbereichs vermeiden. Erstaunlich umso mehr, wie sich nach dem Ende des Franquismus alle Beteiligten unterschiedlich erinnerten: Robles Piquer, der „Director General de Información“, schreibt in seinen Erinnerungen viele Jahre später (2011), alle seine Änderungsvorschläge seien von Vargas Llosa umgesetzt wurden, sodass letztlich er das Erscheinen des Buches ermöglicht habe; Barral erinnert sich, er habe manche von ihnen einfach ignoriert und sei damit durchgekommen; Vargas Llosa behauptet, er habe am Ende nur ein einziges Wort geändert. Aguirre kann zeigen, dass alle drei Aussagen falsch sind. Die inkriminierten Stellen (mehr als eine) sind bis heute in den Editionen in ihrer gegenüber dem ursprünglichen Manuskript entschärften Form stehen geblieben, auch wenn Vargas Llosa sich in der Tat mehrfach gegen die Zensurmaßnahmen gewehrt hatte.

Zu Ende waren die Auseinandersetzungen damit aber noch nicht. Um seine im Gesamtkontext des Regimes relativ liberale Entscheidung abzusichern, bestand Robles auf dem Abdruck internationaler positiver Stellungnahmen zu dem Manuskript – allerdings durfte es keine von Julio Cortázar sein („no autorizado“), und auch ein Foto des Innenhofes der Militärschule in Lima, einem wichtigen Handlungsort, musste aus dem Begleitmaterial wieder herausgenommen werden.

Auch in Peru selbst war die Aufnahme zwiespältig: dem Enthusiasmus der Freunde von Vargas Llosa standen wie in Spanien das Militär und die Politik gegenüber. Die Meldung, Kadetten der Militärschule hätten eine Buchhandlung angegriffen, in der das Buch angeboten wurde, erwies sich als falsch, zeigt aber das soziale Klima, in dem der Roman (zunächst nur in wenigen importierten Exemplaren) gelesen wurde. Erst die Entscheidung Manuel Scorzas, den Roman – aus literarischem wie politischem Interesse – in Großauflage in der Reihe der Populibros zu drucken, machte ihn breit zugänglich. Vargas Llosa musste sich nunmehr umgekehrt gegen zuviel Popularität wehren; „bitte sag ihm, dass er es nicht als ‚das pornografischste Buch der peruanischen Literatur‘ bewerben darf“, heißt es in einem von Aguirre aufgefundenen Brief. Scorza berichtet, in drei Tagen seien 15.000 Exemplare verkauft worden. Die immer wieder verbreitete Meldung, der Roman sei im Hof der Militärakademie verbrannt worden, kann Aguirre jedoch nach umfangreichen Recherchen anhand der Dokumente nicht bestätigen.

Die ‚Biografie‘ eines der zentralen literarischen Texte der lateinamerikanischen Boom-Literatur handelt von einer Zeit, als Vargas Llosa erst langsam, dafür aber mit einem Skandalerfolg  international bekannt wurde und seine Texte eine direkte politische Dimension hatten, die ihnen heute weitgehend fehlt. In ihr verschränken sich Erinnerungen (manchmal auch inkorrekte), dokumentarische Belege und Mythen fast sechzig Jahre nach den Ereignissen, auf die sie sich beziehen.

 

Foto: Mario Vargas Llosa 1982 via Wikimedia Commons

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