Die Kinderkarawane

 

Im vergangenen Jahr luden die Freunde des IAI fünf Vertreter der neueren mexikanischen Schriftsteller-Generation zu einer Podiumsdiskussion ein. Thema der Veranstaltung: die Funktion von Literatur in einer von gewaltsamen Konflikten gezeichneten Gesellschaft wie der mexikanischen.  Teilgenommen hatte auch der Schriftsteller Juan Pablo Villalobos, der den literarischen Schaffensprozess  mit einer Uhr verglich, die immer ein wenig nachgeht. Literarisches Schreiben fände stets zeitverzögert zu gesellschaftlichen Prozessen statt, nie in Echtzeit mit diesen, so Villalobos damals.  Um über die von Gewalt geprägten gesellschaftlichen Prozesse in Echtzeit zu schreiben, greifen Autoren – nicht nur in Mexiko, sondern in ganz Lateinamerika –  auf die crónica  zurück. In Zeiten, in denen man mit der Beschreibung einer im Gestrüpp der Gewalt verfangenen Wahrheit das eigene Leben gefährdet, hat sich diese literarisch eingefärbte Reportage zur Meisterdisziplin entwickelt. Auch Villalobos nähert sich der crónica an,  wenn er quasi in Echtzeit von einer der großen humanitären Tragödien Mittelamerikas erzählt: den Kindermigranten aus Honduras und Guatemala, die sich ohne Begleitung Erwachsener auf den weiten, lebensgefährlichen Weg durch den Kartell- und Gewalt-verseuchten  mexikanischen Migrantenkorridor machen. In „Ich hatte einen Traum“, seinem jüngst ins Deutsche übersetzten Reportage-Band,  lässt er zehn minderjährige Flüchtlinge in ihren eigenen Worten von ihrer Wanderung berichten.  Villalobos betont, dass diese Geschichten keine literarischen Erfindungen sind, sondern die authentischen Erlebnisse alleinreisender Kinder und Jugendlicher,  deren Verzweiflung so groß war, dass sie einfach Richtung Norden losmarschiert sind, oft das jüngere Geschwisterchen an der Hand, in der Hoffnung, die Eltern oder irgendeinen Verwandten auf der anderen Seite der Grenze wiederzufinden. Ohne vorab eine Idee davon zu haben, was sie auf dieser Reise erwarten würde  und ohne die Möglichkeit ins Auge gefasst zu haben, dass ‚Bleiben‘ die bessere Option sein könnte. Denn es gibt in ihren von Gewalt zerstörten Dörfern keinen mehr, bei dem sie bleiben könnten. Ein Elternteil lebt oft schon in den Vereinigten Staaten, der andere wurde von den maras umgebracht, jenen Banden,  die in Guatemala, Honduras und El Salvador  landesweit die ärmsten Stadtviertel und Dörfer tyrannisieren. Und die Großeltern sind zu alt, um weiter auf die Enkel aufzupassen, oder sind selbst den Banden zum Opfer gefallen.

Alleinreisende Kindermigranten brechen stets in großen Gemeinschaften auf, die meisten von ihnen fallen unterwegs dem organisierten Verbrechen zum Opfer, werden missbraucht, von Zetas und anderen Gruppen des organisierten Verbrechens entführt und korrumpiert. Die Davongekommenen, diejenigen, die  diese Reise überleben und ans Ziel gelangen, scheinen äußerlich vielleicht unversehrt, sind aber innerlich völlig traumatisiert. Deshalb  – so Villalobos – hätte für ihn, als er  2016 in New York und Los Angeles seine zehn Protagonisten über die Motive ihres Aufbruchs und die Erlebnisse während ihrer Reise befragte, die Schwierigkeit darin gelegen, stets zu spüren, wieweit er vordringen durfte und wann er stoppen musste. Weil sonst die literarische Aufarbeitung der erlebten Gewalt selbst in etwas gewalttätiges umgekippt wäre.

Donald Trump hat im Mai diesen Jahres, im Rahmen seiner  Null-Toleranz-Politik,  alleinreisende minderjährige Migranten aus Zentralamerika als Bedrohung für die nationale Sicherheit  der USA bezeichnet. Bei gleich mehreren Gelegenheiten sagte er, dass diese Kinder keineswegs so unschuldig seien wie sie wirkten. In Wirklichkeit gehörten sie den berüchtigten maras salvatruchas an; jenen in Gefängnissen der Vereinigten Staaten entstandenen Banden, die durch Abschiebung nach Zentralamerika exportiert wurden und durch besondere Brutalität und Grausamkeit auffallen. Dem widersprach selbst Carla Provost, die nationale Leiterin der Border Patrol. Unter den 250.000 alleinreisenden Minderjährigen aus Zentralamerika, die zwischen 2011 und 2017 illegal in die USA einreisten, seien nur 56 Gang-Mitgliedschaften nachgewiesen worden.* Doch dem US-Präsidenten lieferte seine durch Zahlen nicht gestützte Behauptung nur den Vorwand für eine menschenverachtende Rhetorik. In jüngster Zeit konzentrieren sich seine Angriffe auf die Flüchtlingskarawane, über die – nicht zuletzt gerade aufgrund der sprachlichen Ausfälle des US-Präsidenten – seit  zwei Wochen täglich berichtet wird.  Was in der letzten Oktoberwoche mit ein paar hundert honduranischen Migranten begann, entwickelte sich  zu einer mehrere tausend Menschen langen, gen Norden ziehenden Karawane. Darunter viele Familien mit Kleinkindern, aber auch  viele alleinreisende Minderjährige. Fast scheint es so, als träfe auf die mediale Berichterstattung zu, was Juan Pablo Villalobos im vergangenen Jahr auf der Podiumsdiskussion im IAI der Literatur attestierte: Sie findet zeitverzögert statt. Der Exodus hat schon vor Jahren eingesetzt  – wenngleich im Schatten der medialen Aufmerksamkeit.

Wen die Berichterstattung über die reine Chronologie der Ereignisse unbefriedigt lässt, weil sie nicht erklärt, wieso sich so unglaublich viele Kinder alleine auf eine lebensgefährliche und tausende von Kilometern lange Wanderschaft begeben,  der kann sich von  Villalobos‘  jugendlichen Protagonisten aufklären lassen.

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*siehe Denis Slattery: Daily News 23. Mai 2018

Zu dem Bild: Der Maler Wenceslao Hernandez-Hernandez stammt aus dem Süden Mexikos und migrierte gen Norden. Doch statt die Grenze zu überqueren, blieb er auf der mexikanischen Seite in Agua Prieta und begann die Geschichte der Migranten in Bildern zu erzählen. Den Muralisten Diego Rivera vor Augen, malte er den Exodus der Armen vor dem Hintergrund einer traditionellen mexikanischen Landschaft. Er malte die Migranten als Kinder der ‚Mutter Erde‘ im Schutze der  Virgen de Guadalupe – der mexikanischen Nationalheiligen. ©Jeanette Erazo Heufelder

 

 

 

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