Nachrichten von der US-mexikanischen Grenze

Brot und Spiele

Die Bewohner El Albertos im zentralmexikanischen Hidalgo bieten Hauptstadt-Touristen  sogenannte caminatas nocturnas an – nächtliche Wanderungen über eine fiktive US-mexikanische Grenze, mehrere hundert Kilometer von der echten entfernt. Die Idee war 2004 aus der Not heraus geboren, als nur noch zehn Prozent der Einwohner dauerhaft im Ort lebten. Alle anderen befanden sich schon ‚auf der anderen Seite’  in den Vereinigten Staaten. Einige waren allerdings an der Grenze hängengeblieben und verdingten sich dort als coyotes –  so werden Grenzschleuser genannt. Diese Spezialisten des illegalen Grenzverkehrs holte man sich nun zurück ins Dorf, um das Rollenspiel möglichst wirklichkeitsecht auszugestalten. Die caminatas nocturnas hätten den Abwanderungsprozess gestoppt –  behaupten zumindest die Organisatoren, für die das Spektakel schlicht zur mexikanischen Folklore gehört.

2017 entwickelte der mexikanische Filmregisseur Alejandro G. Iñáritu die Virtual Reality-Installation Carne y Arena (Fleisch und Sand), in der Ausstellungsbesucher die lebensgefährlichen Wüsten-Durchquerungen der mittelamerikanischen Migranten im US-mexikanischen Grenzgebiet sowie auch ihre Festnahmen durch Agenten der US-Border Patrol nacherleben können. Erstmalig während der Filmfestspiele in Cannes gezeigt, wanderte die Videoinstallation durch die musealen Tempel der Hochkultur nach Mailand, Los Angeles und Mexiko-Stadt. Sie war jedesmal komplett ausgebucht, obwohl die virtuelle Grenzgänger-Realität für den Museumsbesucher nur sieben Minuten lang zu erleben war und die Tickets rund 55 Dollar kosteten (Preis für den Besuch der Ausstellung im  Los Angeles County Museum of Art) .

Für die Grenz-Nachrichtenagentur AFN-Tijuana war Ende November hingegen die Medien-Realität an der Grenze die eigentliche Nachricht. In Anspielung auf die Berichterstattung über das Eintreffen der honduranischen Flüchtlinge wurde unter der Überschrift „Die andere ‚Invasion‚“   über die Ankunft einer Karawane internationaler Journalisten in Tijuana informiert,  die mit ihren „Erste-Welt-Ausrüstungen“ live die angespannte Lage  am Grenzübergang San Ysidro auf die Smartphones dieser Welt übertragen. Was bisher kein einziger der dabei entstandenen Berichte  erwähnt:  Vor einem Jahr endete an gleicher Stelle am Grenzübergang San Ysidro schon einmal die Reise für rund 6000 Flüchtlinge aus Haiti, die sich angesichts der sofortigen Abschiebung, die ihnen  auf  US-amerikanischer Seite  drohte, in Tijuana zum Bleiben entschieden. Da  Tijuana die logistische Herausforderung, die mit der Integration der großen Schar Migranten verbunden war, ganz ohne Zwischenfälle meisterte, wurde der damaligen Lage an der Grenze  kein internationaler Nachrichtenwert beschieden. Ganz anders die mediale Erregung heute, die sich auf  Tweets des  US-amerikanischen Präsidenten zurückführen lässt, mit denen er die Migranten-feindliche Stimmung an der Grenze befeuert. Und so blicken alle Augen auf Tijuana, wo  die Chronik einer angekündigten Eskalation mit entsprechenden Bildern von über den Grenzzaun kletternden Migranten untermalt wird.

Die Dritte Welt existiert, um die Europäer vor der Langeweile zu retten“, heißt es im  Roman „Das dritte Leben“ (Arrecife, 2012) des mexikanischen Schriftstellers Juan Villoro an einer Stelle lapidar. Villoro lässt seine Geschichte  in einem Luxushotel an der mexikanischen Karibikküste spielen, wo die Gäste viel Geld für die simulierten Begegnungen mit einer Realität zahlen, die für Bewohner der Dritten Welt Alltag ist. Wer  die teuerste Hotelkategorie gebucht hat, kommt sogar in den bizarren Genuss inszenierter Überfälle und vorgetäuschter Entführungen, die  als Nervenkitzel der Extraklasse angeboten werden. Bei seiner Buchvorstellung im IAI am 31. Oktober 2016 sagte Juan Villoro einen bemerkenswerten Satz, der auch für die gegenwärtige Situation an der Grenze gilt.  Der Protagonist der Geschichte teile mit Mexiko das Gefühl, „sich nie sicher sein zu können, ob die Dinge wirklich so passiert sind, wie es ihm erzählt wird oder ob er manipulierten Erinnerungen erliegt.“

 

Foto: Sásabe, Sonora, Super Coyote Supermercado. ©Jeanette Erazo Heufelder

 

 

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