Teil I: Brasilien
(Textauszüge eines SWR-Features)
In Zeiten der Pandemie, in denen der Aufbruch in fremde Welten vorübergehend wieder zu einer Utopie geworden zu sein scheint, kommt den Reisen anderer, die unseren Blick auf die Welt beeinflusst haben, neue Aufmerksamkeit zu. Der Publizist Peter B. Schumann reist seit den 1960er Jahren nach Lateinamerika. Der Kontinent hat seitdem dramatische Veränderungen erlebt. Diktatoren kamen und gingen, doch inzwischen haben sich fast überall Demokratien dauerhaft etablieren können. Allerdings befinden auch die sich in einem permanenten Umbruch.
Der Neoliberalismus zieht seine meist verheerenden Spuren durch den Kontinent, die tiefen Gräben zwischen Arm und Reich sind noch längst nicht überwunden. Diese Entwicklung und ihre kulturellen und gesellschaftspolitischen Folgen beobachtet der Publizist Peter B. Schumann seit Jahrzehnten für uns. In vier Folgen zieht er ein vorläufiges Resümee seiner Erfahrungen in Brasilien, Argentinien, Chile und Cuba.
Teil I: Brasilien
Ende Februar 1968 kam ich zum ersten Mal nach Brasilien und sofort nach Rio de Janeiro. Diese ‚cidade maravilhosa‘ war damals wirklich eine ‚wunderbare Stadt‘. Sie hat mein Weltbild bereichert und für Jahre geprägt, auf meiner langen Reise durch Lateinamerika. Ich kam aus Berlin und stand plötzlich mitten in den Tropen, zumindest war das mein Eindruck. In einer irritierend schönen Landschaft, in etwas völlig Fremdem, etwas ganz Anderem, Atem raubenden.
Und inmitten einer Diktatur. Vier Jahre zuvor hatten die Militärs geputscht. Doch davon merkte ich erst etwas, als ein Student während einer Demonstration in der Universität von Militärpolizisten erschossen wurde und tausende Menschen dagegen friedlich protestierten.

Bis dahin hatten die Generäle eine eher moderate Politik praktiziert – und eine gesellschaftskritische Kultur geduldet.
Wie z.B. Filme von Glauber Rocha, Gott und Teufel im Land der Sonne, längst ein Klassiker des sog. Cinema Novo, des Neuen Kinos. Es begründete damals, in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, den filmischen Ruhm Brasiliens.
Solche Filme waren es, die mich nach Lateinamerika und zuerst nach Brasilien trieben. Gesehen hatte ich einige von ihnen 1964 am Rand der Internationalen Filmfestspiele in Berlin. Informationen darüber entdeckte ich in französischen Zeitschriften. So konnte ich mich sachkundig machen und auf der Berlinale 1966 eine umfangreiche Retrospektive organisieren. Im Westdeutschen Rundfunk fand ich dann den nötigen Finanzier für meine erste Reise. Dort wurde damals das Westdeutsche Fernsehen als drittes Programm aufgebaut und zwar von Redaktionen, die offen für neue Ideen waren und glaubten, jeder könne sie in Filme umsetzen. So bekam dieser junge Journalist, der zwar Ahnung von Filmen, aber nicht die geringste Kenntnis vom Filmemachen besaß, den heute unvorstellbaren Auftrag: 4 halbstündige Dokumentationen über das Cinema Novo, den Neuen brasilianischen Film, zu produzieren. Am Aschermittwoch im Februar 1968 begann ich mit den Dreharbeiten, im Herbst wurden meine Dokumentationen zusammen mit einigen exemplarischen Spielfilmen ausgestrahlt.
Dazu gehörte Nach Eden ist es weit von Nelson Pereira dos Santos. Filme wie dieser zeigten mir unbekannte soziale Konflikte in einer intensiven, innovativen Bildsprache: das extreme Elend in der Steppe des Sertão, den Mystizismus, dem sich die Menschen in ihrer Verzweiflung hingaben, die Gewalt der Großgrundbesitzer, die Korruption der politischen Klasse, delirierende Männer und starke Frauen in Akten der Revolte gegen versteinerte Verhältnisse.
Das Cinema Novo war Teil eines kulturellen Aufbruchs, der mit dem Bau der neuen Hauptstadt Brasilia Anfang der 1960er Jahre begonnen hatte und dessen letzten Höhepunkt ich miterleben konnte. Tropicalismo nannte sich die Bewegung. Sie war der unmittelbare Ausdruck des modernen Brasiliens, umfasste Film und Literatur, Kunst und Musik, basierte auf brasilianischen Traditionen und verarbeitete sie mit modernen Stilmitteln zu einer neuen, originären Kultur.

Ein herausragendes Beispiel war das Musical Roda Viva in der Regie von Zé Celso Martinez Corrêa, einem der legendären Theatermacher des Landes. Er hatte es gerade in Rio uraufgeführt, und Freunde brachten mich dorthin. Ich erlebte eine befremdliche, wilde Mischung aus Samba und Popelementen, Tanz und politischer Agitation. Ich erinnere mich noch, wie die Hauptfigur, ein lebensmüder Popsänger, von seinen Fans in Fetzen gerissen und eine rohe Leber realiter auf der Bühne verspeist wurde, wie Soldaten in ihre Helme pinkelten, Jesus und Maria kopulierten und wie Schauspieler die Zuschauer in der ersten Reihe an den Schultern packten, um sie wach zu rütteln. Elementare Aggression.
Als das Stück Monate später in São Paulo gezeigt wurde, stürmte das ‚Kommando Jagd auf Kommunisten‘ das Theater, zerstörte die Bühnenausstattung und attackierte die Darsteller. Die Militärs hatten die Repression verschärft, um den zunehmenden Widerstand von Studenten und Arbeitern zu brechen. Im Dezember 1968 erließen die Generäle mit dem sog. Institutionellen Akt Nr. 5 ihr Ermächtigungsgesetz. Damit setzten sie alle Grund- und Bürgerrechte für zehn Jahre außer Kraft.
Damals wurde die Zensur ausgeweitet. Die politischen Parteien wurden vollkommen neutralisiert. Die Politiker, die den Militärputsch ursprünglich begrüßt hatten, gingen ins Exil. Die Gewerkschaften wurden aufgelöst, die Studentenbewegung zerschlagen. In unseren Konzerten durften wir nur noch von Liebe, Natur und den Mädchen von Ipanema singen. Doch Tausende von Jugendlichen sahen darin ein letztes Refugium gemeinsamen Erlebens und verwandelten sie in politische Veranstaltungen.

Bald mussten auch Chico Buarque, der Komponist des Titelsongs von Roda Viva, und andere berühmte Sänger und Künstler emigrieren. Die Generäle exekutierten erbarmungslos ihre neue „linha dura“, ihre „harte Linie“ der Verfolgung, der Folter und der Ermordung ihrer politischen Gegner.
Im Oktober 1969 besuchte ich erneut Rio. Die Stadt hatte sich völlig verändert. Die Menschen hatten ihre Ungezwungenheit und heitere Gelassenheit verloren. Portiers, die einen früher freundlich begrüßt hatten, schauten einen nun argwöhnisch an. Auch in offiziellen Institutionen wie dem Filminstitut und dem Kulturministerium war ich nicht mehr der gern gesehene Gast, sondern jemand, der nur noch höflich abgefertigt wurde. Misstrauen herrschte allerorten. In Brasilien hatten die „bleiernen Jahre“ begonnen.
Bolsonaro
In den Jahrzehnten meiner Beschäftigung mit Lateinamerika habe ich viele demokratisch gewählte Staatschefs kommen und gehen sehen. Ich habe jedoch keinen erlebt, der die vergangene Diktatur so unverhohlen bagatellisiert hat und 35 Jahre nach deren Ende sogar fünf Generäle in seine Regierung holte.
Als erster brasilianischer Präsident verlieh Bolsonaro Offizieren Kabinettsrang und zementierte die Sonderstellung des Militärs in der brasilianischen Demokratie. Er ist dabei, das Wort „Diktatur“ aus dem Geschichtsverständnis der Brasilianer zu tilgen und das einstige Regime der Militärs zu rehabilitieren. Bolsonaro hat es auch meines Wissens als erster lateinamerikanischer Präsident gewagt, die Kultur- und Bildungspolitik extrem konservativen, fundamentalistischen Werten zu unterwerfen, fortschrittliche Lebensentwürfe zu diffamieren und den Indigenen ihre Rechte streitig zu machen. Bereits im ersten Jahr seiner Amtszeit hat Jair Messias Bolsonaro einen ideologischen Umsturz vollzogen wie nie zuvor in der Geschichte Brasiliens.
Text: Abdruck mit freundlicher Erlaubnis von ©Peter B. Schumann
Das ganze Feature zum Nachhören hier:
Fotos: Claudiorgs, claudio Gonçalves via Wikimedia Commons
File:Tanques ocupam a Avenida Presidente Vargas, 1968-04-04.jpg via Wikimedia Commons
Cinema novo via Wkimedia Commons
Chico Buarque, Geraldo Azevedo e Elba Ramalho no projeto Kalunga via Wikimedia Commons