Genau ein Jahr ist es her, dass der Premio Cervantes an die uruguayische Lyriker Ida Vitale verliehen wurde. Mit 96 Jahren ist sie, zusammen mit der sechs Monate älteren Cubanerin Fina García Marruz, die Ende dieses Monats 97 Jahre alt wird, die Doyenne der lateinamerikanischen Lyrik. „Gleichzeitig intellektuell und volkstümlich, universal und persönlich, transparent und tiefgründig“ seien ihre Gedichte, begründete die Jury die Verleihung des Preises: „sie ist eine Referenz für Dichter aller Generationen und in allen Winkeln des Spanischen“.
Das Datum ist nicht zufällig: Jedes Jahr wird am 23. April, dem Todestag von Cervantes, der Premio Cervantes in Alcalà de Henares verliehen: der ‚Nobelpreis der spanischsprachigen Literatur‘, einem ungeschriebenen Gesetz zufolge abwechselnd an einen spanischen und einen aus Lateinamerika stammenden Autor bzw. eine Autorin. Der Preisträger dieses Jahres, wie immer schon sechs Monate zuvor bekanntgegeben, ist Joan Margarit, der wichtigste lebende katalanische Lyriker, im bürgerlichen Hauptberuf Architekturprofessor. Aber wie so vieles in diesem Jahr, muss erstmals in der 35-jährigen Geschichte des Preises die Zeremonie, bei der der spanische König selbst die Urkunde und einen Scheck über 130.000 Euro überreicht, verschoben werden. Umso mehr eine Gelegenheit, einen Blick zurück zu werfen auf Ida Vitale, von der in diesem Jahr, von der Preisverleihung motiviert, zwei autobiografisch getönte Bücher erschienen sind, die sie auch als Person sichtbarer gemacht haben.
Eines heißt Shakespeare Palace und trägt den Untertitel „Mosaicos de mi vida en México“ (Lumen, Barcelona 2019). Es handelt von den Erfahrungen, die Vitale in den Jahren zwischen 1974 und 1984 mit ihrem zweiten Mann Enrique Fierro (zuvor war sie mit Angel Rama verheiratet, von dem sie sich 1969 getrennt hatte) in Mexico gemacht hatte. Nach dem Militärputsch in Uruguay war sie dorthin geflohen, Fierro hatte eine Professur angeboten bekommen. Es seien keine Memoiren, auch wenn jede Leser*in das Recht habe, sie so zu lesen, heißt es einleitend etwas unentschieden. Richtig daran ist, dass es sich um keinen fortlaufenden, kohärenten Erinnerungstext handelt, sondern um Schlaglichter, eben „mosaicos“. Dabei geht es um die Erfahrungen, die sie mit Vermietern und Handwerkern macht, bis sie ein erstes Haus für das künftige Leben gefunden hat (in der calle Shakespeare, sodass sie es ironisch „Shakespeare Palace“ nennt; mehrere Umzüge werden folgen), um ihre eigenwillige Nachbarin Elena, dann aber auch um die intellektuelle Welt der 1970er und frühen 1980er Jahre in Mexico Stadt. Ein Fluchtpunkt ihrer Erinnerungen ist Octavio Paz; ein anderer ist Alvaro Mutis. Schön ist auch die Geschichte, wie sie Juan Rulfo kennenlernt: er ist nämlich der Wohnungsnachbar ihres Freundes Fernando Benítez und betritt dessen Wohnung über die Tür des Balkons im siebten Stock, der beide Wohnungen verbindet …
Der Aufenthalt in Mexico endet, als die Militärherrschaft in Uruguay zu Ende gegangen ist; Präsident Julio María Sanguinetti bietet Enrique Fierro an, Direktor der Nationalbibliothek in Montevideo zu werden. Drei Jahre später ziehen beide nach Austin, wo sie an der University of Texas arbeiten und von wo Vitale erst 2018 wieder nach Montevideo zurückgekehrt ist.
Ganz anders in Ton und Anlage das zweite Buch, das sich in gewisser Weise ebenfalls autobiografisch lesen lässt, Resurreciones y rescates (Colección Biblioteca Premios Cervantes, FCE, Madrid 2019).
Hier sind knapp 40 Aufsätze, Porträts, Rezensionen, Vor- und Nachworte aus den Jahren 1962 bis 2017, vor allem aber seit den 1980er Jahren gesammelt. Macedonio Fernández sind mehrere Texte gewidmet, aber auch Onetti, wiederum Rulfo, Nicanor Parra, der Lyrik Spaniens. Die literaturkritischen Texte, immer auch die eigene Leseerfahrung mit thematisierend, lassen Einflüsse und Sympathien erkennen, die die Gedichte Ida Vitales (mit-)geprägt haben. Sie zeichnen das Bild einer auch im hohen Alter noch intellektuell beweglichen Autorin, eben einer der großen alten Damen der lateinamerikanischen Poesie.
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