Jean Franco, die Doyenne unseres Ehrenkomitees, ist im Alter von 98 Jahren am 14. Dezember in ihrer Wohnung in Manhattan gestorben. Das bestätigte ihr Sohn gegenüber der New York Times, in der die Todesmeldung am 4. Januar erschien.
Jean Franco war geborene Engländerin; 1968 ernannte sie die Universität von Essex zu ersten und damals einzigen Professorin für Lateinamerikanische Literatur in England. Vielleicht kann nichts so sehr die Entwicklung in der wissenschaftlichen Situation der Lateinamerikanistik in den seither vergangenen fünfzig Jahren deutlich machen, wie ihre Bemerkung zu Beginn der berühmten Introduction to Spanish American Literature, die Cambridge University Press ein Jahr später veröffentlichte, dass nämlich „travel, films and translation are just beginning to make Spanish America and its writers familiar outside the continent“ und dass „a few names – those of the poets Vallejo and Neruda for instance – are widely known“.
Fünfzig Jahre lang – ihr letztes Buch, Cruel Modernity, erschien 2013, als sie bereits 89 Jahre alt war – arbeitete Franco daran, diesen Zustand zu ändern. Ihre Hinwendung zu Lateinamerika war ursprünglich eher biografisch begründet. 1944 hatte sie einen Bachelorabschluss in Kunstgeschichte erhalten, erst 1960 einen zweiten in spanischer Literaturgeschichte. Dazwischen liegt ihre Heirat mit einem guatemaltekischen Maler, Juan Antonio Franco, den sie 1953 während eines Aufenthaltes in Florenz kennen gelernt hatte und mit dem sie nach Guatemala zog. Im Vorwort zu The decline and fall of the lettered city (2002), einer Studie zum Kalten Krieg in der lateinamerikanischen Kultur, berichtet sie, wie sich dort – während des von der CIA organisierten Putsches gegen den Präsidenten Jacobo Árbenz – ihr Interesse für die Kultur des Kontinents, vor allem aber auch für deren Zusammenhang mit der Politik entwickelte.
1972 ging sie von England in die USA, zunächst nach Stanford, dann nach Columbia, wo sie bis zur Emeritierung lehrte. Ihr wissenschaftliches Interesse verschob sich – wie für viele Lateinamerikanisten nicht nur ihrer Generation – zunehmend von der reinen Literatur zur Kulturwissenschaft, in ihren späteren Jahren vor allem erneut zur Kunstgeschichte und vor allem auch zur Geschichte der Frauen in den lateinamerikanischen Kulturen. Plotting women: Gender and representation in Mexico (1989) war dabei eine entscheidende und weltweit rezipierte Station.
In Berlin war Jean Franco vor allem in den 80er Jahren häufig und nahm an zahlreichen Tagungen teil. Sie war von übersprudelnder Energie, dabei körperlich eher klein, und allen, die dabei waren, wird unvergessen bleiben, wie sie am alten Rednerpult des IAI, das man noch nicht ohne weiteres verstellen konnte, einen ganzen Vortrag auf Zehenspitzen absolvierte und alle Versuche, ihr so diskret wie in der Situation möglich zu helfen, souverän abwehrte. Seit Gründung des Ehrenkomitees des Förderkreises war sie aus der Ferne dessen Mitglied; alle, die sie kannten, werden ihrer in freundschaftlicher Zuneigung gedenken.
Thomas Bremer