Ein Nachruf von Svend Plesch*
Drei Tage Staatstrauer in Nikaragua nach dem Tod des Dichters und Priesters Ernesto Cardenal. Verordnet von Präsident Daniel Ortega, dessen Wandel von einem der Befreier zum neofeudalen Herrscher Cardenal seit dreissig Jahren kritisiert hat.
Vor fünfzig Jahren waren beide Gefährten in der FSLN, der Sandinistischen Befreiungsfront Nikaraguas, deren Sieg über Diktator Somoza 1979 als Frohe Botschaft galt. Cardenals Dichtung, Reden und Taten erschienen als Teil eines von der Utopie zur Realität werdenden authentischen Traums: von einer Befreiung der Mitte und des Südens Amerikas von Plünderung, Gewalt und Tod, die sich in Alltag und Vorstellung jenes Weltteils seit 200 Jahren mit den USA verbinden. Der Süden als alternative Verwirklichung des Versprechens einer Heimat der Mutigen und eines Lands der Freien. Ein Aufbruchssignal auch für viele in Europa, in Cardenal gewürdigt z.B. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1980.
Geboren 1925 als Teil der katholischen Oberschicht, führte Cardenals Weg vom high- life der Jugend und ironischen Epigrammen über den Ekel vor der Lebensleere ab Ende der 1940er Jahre hin zu einer Berufung zum Priester: unter dem Dach der katholischen Kirche, aber ohne hierarchische Unterwerfung, bis hin zu einer „Theologie der Befreiung“. Als Dichter hin zu „engagiertem Schreiben“ über die Indígenas Amerikas und die früheren und zeitgenössischen Befreier hin zu einem „Kosmischen Gesang“. Solentiname hiess die reale Insel des Lebens, die Cardenal mit gleichgesinnten Gläubigen schuf. Dort erprobte er, was später Teil seiner Projekte als sandinistischer Kulturminister wurde: die Kreativität aller im Alltag zu fördern, Menschen- Verwirklichung zu sehen in allen Formen von Arbeit, Selbst-Vertrauen zu stärken in der gemeinschaftlichen Praxis des Glaubens ohne „Hirten“, der Selbstversorgung und der Künste, z.B. der „naiven“ Malerei oder Dichtung. Die „Talleres literarios“ sollten Werkstätten sein, Erprobungsorte der Sprache für die üblicherweise sprachlos Gehaltenen. Wie in Cardenals eigener „Gesprächs“-Dichtung in Alltagssprache, deren Wirkmacht sich aus Athentizität ergäbe, nicht aus künstlichen Verfahren.
Seit langem musste Cardenal sehen, dass auch dies kein Patentrezept ist, und dass Revolutionen sich in ihr Gegenteil verkehren lassen, sobald ihre Protagonisten dem korrumpierenden Rausch der Macht erliegen. Davor nicht zu kapitulieren, Vertrauen zu halten in eine menschen-mögliche andere Welt, könnte ein weiter reichender Impuls bleiben, wenn seine Dichtungen in den Sedimenten der Literaturgeschichte/n verpackt sein werden. So steht er vielleicht nicht hinter, sondern neben Nikaraguas bekanntestem Dichter, dem „Modernisten“ Rubén Darío (1867-1916). Wenn ihm Statuen und Rituale erspart bleiben: vielleicht halten ihn in längerem Gedächtnis die „ikonischen“ Fotos vom Mann mit langem, weissen Haar und Baskenmütze, dessen freundlicher Blick oft zum Betrachter schaut, nicht in eine verklärte leuchtende Zukunft, und so ohne Gefahr, zum Werbeschildchen einer Modekampagne zu werden.
* Institut für Romanistik, Universität Rostock | veröffentlicht für Ostsee-Zeitung, Rostock, 2020-03-02,
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