Ein legendärer Vordenker filmischer Erneuerung

Zum Tod von Fernando Birri

| von Peter B. Schumann |

DLF – Kultur heute – 28.12.17

Als „Stammvater des Neuen lateinamerikanischen Films“ ist er schon zu Lebzeiten in die Geschichte eingegangen. Dieser Argentinier war einer der wenigen Pioniere der filmischen Erneuerung Lateinamerikas und der Karibik Anfang der 60er Jahre. Sein Dokumentarfilm TIRE DIÉ über die Verelendung von Kindern war 1960 das erste Zeugnis eines sozial engagierten, politisch militanten Kinos auf dem Kontinent, ein Vorbild für viele junge Cineasten, um mit den filmischen und gesellschaftlichen Konventionen zu brechen und auch neue kollektive Produktionsformen zu entwickeln.

„Ich habe mich immer sehr bemüht, Filmteams zusammenzustellen, mit denen ich gemeinsam ein Projekt entwickeln konnte“ – so hat Fernando Birri seine Arbeitsweise einmal erklärt. „Eine Mannschaft, die sich damit identifizierte und in der jeder die größtmögliche Freiheit erhielt. Höhepunkt war stets der Moment, wenn sie etwas beitrugen, was ich mir gar nicht vorgestellt hatte.“

Fernando Birris filmisches Werk ist ein einziger Bruch. Da gibt es keine Kontinuität, sondern nur steten Wandel, Versuch im besten Sinn. Keiner seiner Filme gleicht dem anderen. Er hat bemerkenswerte Dokumentationen gedreht über Che Guevara oder Rafael Alberti. Nach seinem ersten sozialkritischen Spielfilm LOS INUNDADOS (Die Überschwemmten) hat er sich mit UN SENOR MUY VIEJO CON UNAS ALAS ENORMES (Ein alter Herr mit riesengroßen Flügeln) am magischen Realismus einer García Márquez-Adaption versucht und selbst die Hauptrolle gespielt. Und er hat das überbordende, experimentelle Kunststück ORG vollbracht, wo der junge Terence Hill auftrat, bevor er als Westernheld berühmt wurde.

Ständiger Wechsel, das stete Infragestellen des gerade Gesicherten, Suche nach Neuem – das war sein Motto. „Wir haben immer versucht, die Dinge zu ändern“ – so Birri. „Das kann man als revolutionär bezeichnen oder wie auch immer. Etwas Neues anzustreben, aber nicht weil es neuartig war, sondern weil es eine wirkliche Erneuerung darstellte. Darin besteht mein Werk.“

Fernando Birri auf den Filmregisseur oder gar auf den „Stammvater“ zu reduzieren, ist eine unzulässige Verkürzung einer ständig Grenzen überschreitenden, vielseitigen Künstler-Persönlichkeit, wie es nur wenige in Lateinamerika gibt. Eigentlich ist dieser Cineast Poet. „Meine wirklichen Wurzeln sind die Gedichte“, hat er einmal gesagt. Und deshalb ist die „Geburtsurkunde“ der berühmten kubanischen Film- und Fernsehakademie in San Antonio de los Baños eher ein poetisches Manifest als ein übliches Gründungsdokument. Sie ist auf sein Betreiben entstanden und war anfangs auch von seinem freien Geist durchdrungen, seinem Willen, Konventionen zu überwinden.

„Nicht nur die Produktionsform musste revolutioniert werden, sondern auch die Sprache. Unsere Produktionsmittel zwangen uns dazu, die bescheidene Kameratechnik, die wir anfangs hatten. Aber auch die Sprache muss ständig erneuert werden. Doch am Anfang muss die Revolution des Inhalts stehen. Wir müssen die Mängel unserer Unterentwicklung beschreiben und zwar in dem Bestreben, die Situation zu verändern.“

In seinem „Gedicht in Form eines Vorspanns“, das er als Einleitung für meine „Geschichte des lateinamerikanischen Films“ schrieb, hat er jedoch auch angemahnt: „Eine Revolution / die nicht (ständig) revolutioniert / Sprache / Alfabete / Gesten/ Blicke/ erstarrt oder stirbt.“ Diese poetisch-politische Formel hat das offizielle Cuba nicht erfreut.

Fernando Birri, der revolutionäre Cineast, der Dichter, der Dozent, der Darsteller und gern auch Selbstdarsteller, war außerdem ein bildender Künstler. Mit den Augen des Malers hat er die Welt gesehen und seine FOTOGLYPHEN geschaffen. Das sind Bilder phantastischer Malerei, barocke Hirngespinste über afro-cubanische Mythen, witzige Umdeutungen und erotische Ausdeutungen der karibischen Welt. Plastische Zeichen, die zu Licht-Zeichen werden, eben Fotoglyphen, wenn man sie die Dia-projiziert.

Mit Fernando Birri, diesem unsteten Argentinier aus Geburt und Lateinamerikaner aus Leidenschaft, ist ein Vordenker nicht nur filmischer Erneuerung von uns gegangen. Doch es bleibt sein Vermächtnis: der unaufhörliche Wille zur Veränderung.

Quelle des Bildes: Fernando Birri, cineasta argentino en la alfombra roja de los premios. De Festival Internacional de cine de Guadalajara (Flickr) CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

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