‚Land meiner Träume‘ von Patricio Guzmán

Autor: Peter B. Schumann

Vom chilenischen Kino war in der letzten Zeit bei uns wenig zu sehen, obwohl eine ganze Reihe von Regisseuren internationale Preise erhielt, unter anderem auch auf der Berlinale. Einer von ihnen ist Patricio Guzmán, der bedeutendste Dokumentarist Chiles. Mit La Batalla de Chile ist er bereits in den 1970er Jahren berühmt geworden. Das Hauptthema seines gesamten Werks ist das Schicksal seines Landes. Als der soziale Aufstand im Oktober 2019 Hunderttausende im ganzen Land auf die Straßen trieb, griff auch der 80-jährige Guzmán wieder zur Kamera. Das Ergebnis heißt Mi país imaginario/ Land meiner Träume. Und es ist bundesweit zu sehen.

Patricio Guzmán wollte dokumentieren, was da plötzlich in Chile passierte: Massendemonstrationen im ganzen Land, wie es sie seit der Zeit der Unidad Popular Anfang der 1970er Jahre nicht mehr gegeben hatte. Am 25. Oktober 2019 beteiligten sich allein in Santiago de Chile 1,2 Millionen Menschen – nach offiziellen Quellen. Ihr Protest richtete sich gegen die unhaltbaren sozialen Probleme und gipfelte in der Forderung nach einer neuen Verfassung. Für Patricio Guzmán waren diese Manifestationen Ausdruck eines neuen politischen Bewusstseins.

„Das war eine drastische Veränderung, denn die chilenische Gesellschaft hatte jahrzehntelang vor sich hingedämmert, war nun aufgewacht und verlangte jetzt eine andere, menschlichere Politik. Allen voran die Jugendlichen, aber auch Leute mittleren Alters. Sie artikulierten endlich die lange angestaute, enorme Unzufriedenheit: mit dem Gesundheitssystem, dem Bildungswesen, der Arbeitssituation. Das ist nämlich ein ziemlich rückständiges Land.“

Chiles berühmtester Dokumentarist erinnert in Mi país imaginario/ Das Land meiner Träume zunächst an Salvador Allendes Versuch in den 1970er Jahren, einen demokratischen Sozialismus zu etablieren. Guzmán war damals der Chronist der Ereignisse, hat sie in seinem viereinhalb-stündigen Meisterwerk La Batalla de Chile/ Die Schlacht um Chile festgehalten und zitiert es in Ausschnitten. Das Projekt Allendes scheiterte. Die Militärdiktatur implantierte den Neoliberalismus und vertiefte die Spaltung der Gesellschaft. Seit langem gehört Chile zu den Ländern mit der größten sozialen Ungleichheit in der Welt.

Der damalige Präsident Piñeira war offensichtlich von der Massivität der Proteste so überrascht, dass er das Militär mobilisierte, was die Wut der Demonstrierenden steigerte. Sie ließen sich weder von Tränengasgranaten noch von Gummigeschossen abhalten, die oft bewusst in die Gesichter zielten, wodurch Hunderte von Protestierenden ihr Augenlicht teilweise oder ganz verloren. Kein Filmemacher hat die Brutalität der Repression so erschreckend dokumentiert wie Patricio Guzmán.

„Ich habe mich bisher nicht um Politik gekümmert. Aber ich bin nicht die Einzige, wir sind viele, die sich heute einmischen und protestieren wie ich. Ich tue es auch für mein Kind. Sollte ich dabei ein Auge verlieren, kämpfe ich dennoch weiter. Es bleibt uns einfach nichts anderes übrig, als so zu handeln, damit sie uns ernst nehmen, denn viele Menschen hungern hier. Ich habe das selbst durchgemacht. Nachdem ich die Uni-Gebühren bezahlt hatte, blieb mir kein Geld mehr fürs Essen.

Das erzählt eine junge, maskierte Frau, die wie viele für ein anderes Bildungssystem streitet, denn es ist in Chile so teuer, dass viele sich verschulden müssen. Es sind überhaupt die Frauen in Guzmáns Film, die die Ursachen des sozialen Aufstands analysieren, weil er sie für die gesellschaftliche Avantgarde hält: „Sie sind allmählich den Männern weit voraus und repräsentieren auch diese Bewegung viel besser, denn sie wissen genau, was sie wollen. Und sie haben sogar eine starke, weibliche politische Kultur entwickelt.“

Berühmtwurde der Chor des feministischen Theaterkollektivs Las Tesis. Zunächst zogen nur kleinen Gruppen von Frauen vor Polizeikasernen, um gegen die Femizide zu protestieren. Später vereinigten sich Hunderte zu riesigen Chören gegen staatliche Gewalt:
„Der Vergewaltiger bist du, seid ihr alle:
die Bullen, die Richter, der Staat, der Präsident!
Der Unterdrückerstaat ist wie ein vergewaltigender Mann!
Der Vergewaltiger bist du!“

In Mi país imaginario verknüpft Patricio Guzmán ingeniös Reportage und Reflexion und verbindet das Projekt Salvador Allendes vor einem halben Jahrhundert mit dem Aufbruch von heute durch die Wahl des neuen linken Präsidenten Gabriel Boric. Damit beginnt für den Chronisten der chilenischen Geschichte eine neue Epoche und vielleicht das Land seiner Träume.           

Quelle: Deutschlandfunk-Kultur – Vollbild – 15.4.2023

Bildquelle: Icarus Films

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