La Cubana oder Ein Leben für die Kunst

Ein Testimonio auf der Opernbühne

In diesen Tagen (die Premiere wäre am 26. April gewesen) sollte in der Staatsoper Unter den Linden die Oper „La piccola Cubana“ von Hans-Werner Henze gespielt werden. Das ist auch eine Hommage an den cubanischen Autor Miguel Barnet, auf dessen Roman „La canción de Rachel“ das Libretto beruht und der im Januar diesen Jahres 80 Jahre alt geworden ist.

Von Thomas Bremer

„La canción de Rachel“ ist das, was Barnet einen „Testimonio-Roman“ genannt hat, einen Text, der auf (zumeist per Tonband) aufgezeichneten originalen ‚Zeugen‘-Aussagen beruht und dann mit literarischem Anspruch zu einem kohärenten Text umgeformt wurde. ‚Rachel‘ ist hier eine cubanische Revuetänzerin, die – zusammen mit anderen Schauspielerinnen, Sägerinnen usw. ihrer Generation – in den späten 60er Jahren in einem Altersheim für Bühnenkünstler in Havanna lebte und die Barnet Auskunft über das Leben als ‚Revuestar‘ in den Zwanziger und Dreißigern berichtet. Im Rückblick erinnert sie sich an Niederlagen und Triumphe ihrer Bühnentätigkeit, an Glanz und Talmi der Nachtclub-Halbwelt. „Rachel ist nicht eine Person, sie ist viele“, hat Barnet damals in einer Anmerkung formuliert; anders gesagt: aus einer ganzen Anzahl von Interviews hat er eine sozusagen prototypische ‚Idealfigur‘ geformt, die dann im Buch nicht so sehr eigene individuelle Erlebnisse wiedergibt, als vielmehr stellvertretend (oder vielleicht besser: synthetisierend) für eine spezifische Personengruppe (Frauengruppe) in einer bestimmten Epoche steht.

Das dabei zugrundeliegende Prinzip ist das des Testimonio, das heute viele Hunderte an Texten in der lateinamerikanischen Literatur umfasst, im Wesentlichen aber von Barnet wo nicht ‚erfunden‘, so doch erstmals mit großem literarischem Erfolg umgesetzt wurde. 1963/64 hatte er, noch als junger Ethnologiestudent in Havanna, ein Interview mit dem damals 104-jährigen Esteban Montejo geführt, dem wohl letzten überlebenden ehemaligen Sklaven vor der cubanischen Unabhängigkeit 1898. Montejo war ein „cimarrón“, ein aus dem Repressionssystem der Kolonie in die Berge geflohener Sklave, und er kehrte aus seiner Einsamkeit erst wieder zurück, als er mehrfach zuverlässig erfahren hatte, dass die Sklaverei inzwischen abgeschafft worden sei. In seinem Bericht über die Jahre in den Bergen werden viele (auch ethnologisch interessante) Details aus der afrocubanischen Lebens- und Glaubenswelt des ausgehenden 19. Jahrhunderts deutlich, auch ein Naturverständnis, das in seinen Berichten lebhaft erklärt wird. Das Prinzip des Testimonio als literarischer Gattung wird schon in diesem frühen Beispiel deutlich: zweiAutoren (einer, der berichtet, aber selbst keinen Zugang zu den Instanzen der Schriftlichkeit hat; einer – Schriftsteller, Journalistin –, der gerade darüber verfügt und den Originalbericht ihren Normen entsprechend ‚lesbar‘ macht), eine beibehaltene Mündlichkeit, sowie der Einblick in ‚unterbürgerliche‘ soziale Verhältnisse, die ‚typischen‘ Leser*innen zuvor verschlossen waren und deren Vertreter*innen in dem Text erstmals ‚eine Stimme erhalten‘.

„La canción de Rachel“ war 1969 Barnets zweiter Testimonio-Band; auf seiner Grundlage hatte Hans Magnus Enzensberger ein Libretto für Hans Werner Henze geschrieben. „Nichts als ein Vaudeville“ sei seine Oper, hatte Henze bei der Uraufführung 1974 gesagt und das Stück in Anspielung auf Rachels Revuetätigkeit „La Cubana oder ein Leben für die Kunst“ genannt. „La piccola Cubana“ ist eine kammermusikalisch angelegte Version des ‚großen‘ (auch ein großes Orchester erfordernden) Stückes, über die Henze schon früh nachgedacht hatte und die ihn bis zu seinem Tod (2012) beschäftigte. Schade, dass – wie so vieles in diesen Tagen – die Aufführung des nachgelassenen Materials nicht zustande kommen konnte; hoffen wir, dass es nachgeholt werden kann.

Foto: Revuestar Olga Navarro / La Habana

 

 

 

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