Aus einem Bericht von Tobias Timm in DIE ZEIT Nr. 8/2017, 16. Februar 2017
Die Anti-Trump-Demonstration war unter den Schriftstellern, Künstlern und Akademikern aus dem schönen Condesa und Roma Norte durchaus umstritten. Man solle sich, hieß es, lieber um die Feuer im eigenen Land kümmern, statt sich mit der Rauchwolke im Norden abzugeben. Auch Eduardo Sarabia, der Mexiko im Flammenmeer gemalt hat, ist überraschenderweise ganz entschieden dieser Meinung.
Wir treffen Juan Villoro, einen bedeutenden Intellektuellen des Landes, in einem Café nahe der riesigen Autonomen Nationalen Universität Mexikos, an der er Professor für Literatur war. Der 1956 geborene Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Essayist, von dem auf Deutsch zuletzt der Roman Das dritte Leben erschienen ist, warnt vor einer Anti-Trump-Hysterie:
„Wir Mexikaner müssen uns über unsere Absichten klar werden“, sagt er. „Es ist für uns sehr schlimm, dass Trump Präsident der Vereinigten Staaten ist. Aber es ist noch viel schlimmer, dass Enrique Peña Nieto unser Präsident ist. Wir müssen unsere eigene Lage kritisieren. Wir dürfen jetzt keinen Schild des Patriotismus aufbauen. Das wäre gefährlich.“
Die Psychologie Mexikos, so erklärt er, sei die eines kleinen Bruders, der sich von dem großen Bruder Komplimente und kleine Vorteile erhoffe. „Unsere Ökonomie ist von den USA total abhängig. Nur ein Beispiel: Im Jahr 2000 war Mexiko das fünftwichtigste Erdölförderland der Welt. Heute beziehen wir 60 Prozent unseres Benzins von den USA. Die USA könnten Mexiko mit einem Lieferstopp innerhalb von zehn Tagen vollständig paralysieren. Das ist eine grausame Abhängigkeit.“ Peña Nieto habe diese Abhängigkeit noch befördert. Und das sei noch lange nicht alles. Hinzu kämen noch die geradezu epischen Korruptionsfälle im Umfeld des Präsidenten, die wachsende Ungleichheit, die explodierende Gewalt. „Mehr als 100.000 Menschen sind in den vergangenen Jahren Opfer von Gewalttaten geworden, 30.000 Menschen verschollen. Darunter die 43 Studenten aus Ayotzinapa, die seit 2014 vermisst werden. Wir befinden uns in einer extrem schlechten Lage. Unser gesamtes politisches System ist korrupt.“

Der Schriftsteller hat sich jetzt so in eine konzentrierte Rage geredet, dass der Kellner des Cafés ihn nicht mit dem Hinweis zu stören wagt, man habe längst geschlossen. Unter Javier Duarte, dem Gouverneur des Bundesstaats Veracruz, sagt Villoro, seien in den vergangenen Jahren 16 Journalisten ermordet worden: „Das ist ein neuer Rekord!“ Als die Vorwürfe gegen den Gouverneur wegen Korruption und Bereicherung immer konkreter geworden seien, sei dieser Ende vergangenen Jahres einfach abgetaucht. Was soll man tun? Nur eine neue Zivilbewegung, meint der Schriftsteller, könne das Land noch retten. Damit eine solche Bewegung Erfolg habe, müsse man sich auf einige wenige Ziele einigen: Kampf gegen Korruption, Gewalt und Armut, Ausbau der Bildung. Es gibt keine kleine Lösung für die mexikanischen Probleme: „Wir müssen uns eine neue Identität erfinden.“
Aus der Sicht der mit Gleichmut, Ironie und Zynismus gut versorgten europäischen Diskurse mag es naiv klingen: Aber alle Künstler oder Intellektuellen, denen man in diesen Tagen in Mexiko-Stadt begegnet, glauben wieder an die politische Wirkung der Künste.
Juan Villoro erinnert an die kulturellen Bewegungen, die nach der Revolution in Mexiko in den zwanziger Jahren entstanden sind, die berühmten Wandmaler, die Schriftsteller, die mit einem Netz von öffentlichen Bibliotheken für Aufklärung und Demokratisierung sorgten. „Und es gibt heute wieder genügend Kräfte“, sagt er, „um das Land durch Kultur zu verändern.“
Zusammen mit international bekannten Regisseuren und anderen Autoren arbeitet Villoro an einer Art Notfalltheater. Schon 1994 hatten die Künstler solche Theaterstücke zur Verteidigung des zapatistischen Aufstands unter dem Subcomandante Marcos aufgeführt. Schließlich gibt es historische Vorbilder: Das frühe Italien der Korruption und der Ungerechtigkeit habe immerhin die Renaissance hervorgebracht. „In diesem Sinne bleibt uns heute nur die Möglichkeit, Renaissancekünstler zu werden. Die beste Kunst entsteht oft unter Druck. Er darf nur nicht zu groß werden, es darf nicht zur Diktatur kommen.“
Im Übrigen habe die mexikanische Alltagskultur schon jetzt einen stärkeren Einfluss auf die USA, als manche glaubten, sagt Villoro mit einem verschmitzten Lachen. „Wir Mexikaner haben zwar nicht so viel Geld wie die US-Amerikaner und keine so mächtigen Institutionen. Aber unsere Kultur ist stark.“ Das zeige sich sogar im Essen: Unter den Millionen von US-Fernsehzuschauern des Super Bowl Anfang Februar war Guacamole nach den Pommes der zweitbeliebteste Imbiss.
Juan Villoro ist Mitglied im Ehrenkomitee der ‚Freunde des IAI‘