| Unser Mitglied ist 80 Jahre jung |
In diesen Tagen werden viele Freund*innen und compañer@s Urs feiern und an sein spannendes bisheriges Leben erinnern. Von seiner Kindheit und frühen Jugend in Marienburg und von den Wandervögeln wird da die Rede sein. Sicherlich auch von seiner Flucht nach Kriegsende an die Saale, seine Schulzeit in Kassel, seinen Studien der Politik und Physik in Marburg und dann der Soziologie, der Geschichte und Mathematik in Berlin. Und natürlich erwähnen auch alle seine Zeit im Sozialistischen Studentenbund (SDS), wo er, worauf sein Freund Klaus Meschkat wohl zurecht hinwies, eher als 58er, denn als 68er teilnahm.
Aus heutiger Sicht muss sein Rausschmiss aus der SPD 1965 und seine anschließende Mitarbeit im Republikanischen Club als Glücksfall der (west-) deutschen Geschichte gedeutet werden. Er verstärkte letztlich sein vehementes und konsequentes außerparlamentarische Engagement, was schließlich auch dazu führte, dass er an der Gründung der Alternativen Liste in Berlin mitwirkte. Mächtig mischte sich Urs später auch in die Ausrichtung der Grünen und der Heinrich-Böll-Stiftung ein.
Als Privatdozent für Soziologie an der FU-Berlin hat er nicht nur die Gründung und Profilierung des Lateinamerika Instituts (LAI) vorangetrieben – und damit wichtige Grundsteine für die deutsche Lateinamerikaforschung gelegt, sondern Hochschulpolitik insgesamt geprägt. Dies alles, wie auch sonst, immer gegen den Mainstream. Das etablierte westdeutsche Universitätswesen fuhr dann auch eine der schärfsten Attacken gegen ihn, indem es Urs eine Soziologieprofessur verweigerte. Doch auch da hat er dem System angemessen und in historischer Dimension geantwortet: Nach seiner Emeritierung an der FU-Berlin folgte er einem Ruf an das Lateinamerika Institut der Universität Warschau und wurde schließlich in seinem Geburtsland zum „ordentlichen Professor der Soziologie“ ernannt.
Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, compañera und Ehefrau Clarita hat Urs aber über viele Jahrzehnte wohl vor allem an einem großen Vorhaben gearbeitet: der radikalen Demokratisierung der Gesellschaft, um autoritäre Herrschaft und Herrschaftsverhältnisse zu verhindern und zu verändern. Aus der antifaschistischen Tradition kommend, sind ihre Lebensenergien darauf gerichtet, den Kapitalismus und das Patriarchat zu bekämpfen und diesem ein emanzipatorisches und ökologisches Gesellschaftsprojekt entgegenzusetzen.
Dass dies nur mit einer internationalistischen Perspektive und solidarischem Handeln geschehen kann, haben die beiden seit ihrer gemeinsamen Zeit in Chile in den frühen 1970er Jahren nicht nur kontinuierlich gesagt, geschrieben und gelehrt, sondern auch gelebt. Urs zeigte schon in den 1960er Jahren, dass ein linker deutscher Mann auch im Alltag Theorie und Praxis zusammenbringen kann.
Viele haben ihn damals als Windeln wechselnden, kochenden und abwaschenden Vater zweier wunderbarer Kinder erlebt, der dennoch an der Uni arbeitete und anschließend auf jeder relevanten Demo oder politischen Veranstaltung der Linken im damaligen Westberlin zu sehen war. Zu einem Zeitpunkt also, wo die Kitas noch in den Kinderschuhen steckten.
Urs – natürlich durch die vielen politisch aktiven Frauen geprägt, die sein Leben begleiteten-, stritt schon für Geschlechterdemokratie, als die Tomaten gerademal anfingen zu fliegen. Bei den Feten im Lateinamerika Institut in den „wilden 80ern“ war er mit dem Besen noch bei Sonnenaufgang beim Saubermachen zu sehen. Sein Weinglas freilich ganz in der Nähe. Sein Talent zum leckeren Kochen, ähnlich wie seine Gitarren-, Gesangs- und Tangotanzkünste, sind legendär. Nicht unbedingt nur wegen der Qualität, sondern auch auf Grund Urs´ Fähigkeit, die Dinge so in Szene zu setzen, dass sie nie produziert wirken, sondern einfach seinem Spaß am Leben und an dem menschlichen Miteinander Ausdruck verleihen.
Auch wenn, oder vielleicht sogar weil, in einer der wohl spannendsten und interessantesten politischen deutschen Nachkriegsbiographien ein Abgeordnetenhaus- oder Bundestagsmandat fehlen: Wohl nur wenige haben über so viele Jahrzehnte so ausdauernd und beharrlich an der Schaffung und Gestaltung von kritischer Wissenschaft, politischer Gegenmacht und demokratischer Kultur in Deutschland mitgewirkt wie er.
Seine zwischen Realo-Konstruktion und Fundi-Prinzipientreue oszillierende, aber stets „vorwärts“ laufende politische Biografie ist und bleibt authentisch, weil sie immer von Solidarität, der Lebenslust nach dem Weitermachen und einer großen menschlichen Offenheit geprägt war. Autoritarismus, Obrigkeitshörigkeit, Machismo, Sektierertum, Karrierismus und Selbstsucht sind Urs ein Gräuel. Mehr noch, er hat diese Eigenschaften nicht nur immer und überall (und viel früher als die meisten) entlarvt und bekämpft: Er hat darüber hinaus gezeigt, dass ein deutscher linker Mann anders leben und wirken kann.
Selbst seine dennoch gelegentlich auftauchenden Wutausbrüche manifestieren ihr destruktives Potenzial nur an der bedrohlichen Errötung seines Gesichtes. Als Beweis für seinen „revolutionären Pazifismus“ mag herangeführt werden, dass es Urs in seinem bewegten und viele Menschen bewegenden Leben nicht geschafft hat auch nur einen einzigen Feind oder eine einzige Feindin zu kreieren.
Generationen von Studierenden und Doktorant*innen, insbesondere diejenigen, die mit ihm studentische Exkursionen etwa 1986 nach Uruguay oder wenige Jahre später nach Chile erleben durften, erfuhren, dass es möglich ist, Wissen an junge Menschen weiterzugeben, ohne Druck zu machen. Urs‘ Kompetenz als Dozent speist sich nicht nur aus seinem unglaublich detaillierten historischen, soziologischen und politischen Wissen, sondern ebenso aus seiner ureigensten Art, es zu vermitteln.
Auszug aus: Robert Grosse
„Eine runde internationalistische Sache. LN-Legende Urs Müller-Plantenberg wird 80 Jahre jung.“
Lateinamerika-Nachrichten Nr. 512/ Februar 2017.
Quelle des Fotos: Müller-Platenberg.