Dieter Ingenschay. Eine andere Geschichte der spanischen Literatur

Prof. em. Dieter Ingenschay, Gründungsmitglied des Förderkreises bzw. der Freunde des IAI, hat eine ungewöhnliche Geschichte der spanischen Literatur publiziert. Unser Mitglied Peter B. Schumann hat sie gelesen.

Eine Literaturgeschichte als Lese- und Lehrerfahrung eines ganzen Wissenschaftler-Lebens zu schreiben, das ist schon eine Leistung. Dabei dem schier endlosen Material auch noch innovative Erkenntnisse abzugewinnen, das ist beispielhaft. Dieter Ingenschay ist es gelungen.

Er hat zum ersten Mal die spanische Literatur mit Hilfe der von ihm leidenschaftlich praktizierten Gender und Gay Studies konsequent überprüft. Und hat beispielsweise festgestellt, dass Miguel de Cervantes, der klassischste aller spanischen Autoren, in seinem Don Quijote bereitsam Anfang des 17. Jahrhunderts „Geschlechterwechsel und einen Tausch der sozialen Gender-Rollen inszeniert“ hat. Oder dass Federico García Lorca, dieser größte spanische Dichter und Dramatiker des 20. Jahrhunderts, nicht einfach der bekannte homosexuelle Autor war, sondern „der herausragende Schöpfer einer spezifischen queeren/schwulen Ästhetik, die mit kreativen Uneindeutigkeiten operiert“ – wie Dieter Ingenschay schreibt.

Die Diversität stellt er als ein besonderes Charakteristikum der spanischen Literatur heraus. Dazu gehört auch das Kapitel „Begehren und Aufbegehren“, das er dem oft verheerenden literarischen Bild der Frau und vor allem den schreibenden Frauen gewidmet hat. Neben den historischen Beispielen konzentriert er sich besonders auf die erotische Literatur, die unter Franco verboten war und in der postfranquistischen Movida, der Zeit der sexuellen Freiheit, eine neue Blüte erlebte. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass sie bewusst bis dahin tabuisierte Bereiche verletzte.

An diesem Kapitel wird einmal mehr Ingenschays Methode deutlich. Seine Thesen arbeitet er nicht historiographisch, in großen chronologischen Bögen heraus, sondern macht sie exemplarisch an einzelnen Werken fest bzw. wie hier an Autorinnen wie Almudena Grande, Najat El Hachmi oder Rosa Montero. Er legt auch an ihrem Bild der Frau seine kritischen Maßstäbe an und verweist erstmals auf die durchgängige Präsenz von Schriftstellerinnen in der spanischen Literaturgeschichte.

Der „verunsicherten Geschlechterordnung und zweifelhaften Mannes-Ehre im Barockdrama“, also bei Calderón de la Barca oder Lope de Vega, hat er ein weiteres spannendes Kapitel gewidmet.

Doch Dieter Ingenschay dogmatisiert seine Sichtweise nicht, legt kein rigides Raster über die spanische Literaturgeschichte. Bei ihm finden auch die Romane der Krise ihren Platz, denn die Lehman-Brother-Pleite stürzte 2008 auch Spanien in eine existentielle Notlage, deren Folgen noch heute zu spüren sind. Rund drei Dutzend Romane von großer thematischer und stilistischer Bandbreite lieferte dieses „höchst heterogene Phänomen“.

Die Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg und der Franco-Diktatur ist bis heute ein offenes Kapitel in der spanischen Gesellschaft und ein zentrales Thema für Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Der Berliner Hispanist sieht ihren literarischen Höhepunkt zwischen 1985 und 2010 als ein Ergebnis der politischen Debatte um die Aufarbeitung der Vergangenheit und des Streits um eine angemessene Erinnerungskultur.

Der Großstadt-Literatur, dem Madrid-Roman, hat er sich ausführlich angenommen. Sein besonderes Augenmerk hat er auf die literarische Produktion in den autonomen Regionen gerichtet, denn dieses Land besitzt eine enorme sprachliche Diversität. Außer im offiziellen Spanisch wird seit Jahrhunderten in Katalanisch und Baskisch und sogar in Galizisch geschrieben.

„Von Cervantes bis zur Gegenwart“ – so der Untertitel – reicht diese „andere“ Erkenntnisreise durch die Literatur Spaniens. Subjektiv und wissenschaftlich profund und auch noch lebendig erzählt: ein lehrreiches Vergnügen für Leserinnen und Leser sowie eine Fundgrube für alle Studierenden.

Dieter Ingenschay: Eine andere Geschichte der spanischen Literatur
Wissenschaftsverlag De Gruyter, 466 Seiten
Als gebundene Ausgabe: 99,95 €
Als e-Book und in Open Access erhältlich


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