Zum 100. Geburtstag von Darcy Ribeiro
Von Peter B. Schumann
„Ich habe viel über mein Leben mit den Indigenen geschrieben, denn ich habe viel von ihnen gelernt. Und über den Amazonas, dieser von geradezu verrückten Produzenten ausgebeuteten Region. Sie wollen nicht begreifen, dass die Existenzgrundlage von vielen Millionen Brasilianern, die direkt vom Amazonas leben, durch die Vernichtung des Waldes zugunsten endloser Weideflächen und Kaffeeplantagen zerstört wird.“
1990 sagte mir dies Darcy Ribeiro am Ende einer Tagung im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Inzwischen ist durch Raubbau nicht nur das Leben von 150 im Amazonas lebenden indigenen Völkern bedroht, sondern auch das Ökosystem in Teilen Lateinamerikas und das Weltklima.
Eigentlich wollte der am 26. Oktober 1922 im Bundesstaat Minas Gerais geborene Ribeiro Mediziner werden. Aber dann verführte ihn die Soziologie zu einem anderen Studium des Menschen, der Anthropologie.
„Er verbrachte die zehn besten Jahre seines Lebens (1946 bis1955) damit, dass er in der Hängematte in den indigenen Dörfern des Amazonasgebietes schlief.“ – wie er in einer ironisch gefärbten Vorrede zu einem Band mit Essays schrieb. In seinen zahlreichen Studien über diesen am wenigsten erforschten und am meisten missachteten Teil der brasilianischen Bevölkerung ging es ihm um deren gesellschaftliche und kulturelle Anerkennung.
„Später machte er Karriere als Lehrer, Rektor und schließlich Minister (1955 bis1964). Dabei traf er mit Jango Goulart zusammen, der ihn dazu verleitete, sich mit den Versuchen zur Förderung der Agrarreform und der Gewinnkontrolle der multinationalen Unternehmen zu befassen. Das war ein totaler Fehlschlag.“
Auf einem anderen Gebiet reüssierte der vielfach interessierte Intellektuelle allerdings in der Regierung des linken Präsidenten João Goulart: in der Bildungspolitik. Die Universitätsreform wurde zu einem weiteren zentralen Betätigungsfeld. Er sah die Hochschulen in einem krisenhaften Zustand, verlangte grundlegende Erneuerungen und eine aktive Rolle beim Kampf gegen die soziale Ungleichheit. Mit der Universität von Brasilia schuf er ein Projekt mit Modellcharakter und wurde 1962 ihr Gründungsrektor. Die Militärs, die sich 1964 an die Macht putschten, ließen sie zu einer der vielen konventionellen Hochschulen umwandeln.
Deshalb formulierte er in seiner letzten Ansprache 1995 noch einmal seinen Anspruch: „Die kommenden Jahrzehnte werden Jahrzehnte des Kampfes sein, eines Kampfes für die Wiedergeburt der Universität von Brasilia! Zuerst müssen wir sie als eine von der Regierung unabhängige Institution zurückzuerobern, so wie es im Gründungsstatut steht, denn sie hat nichts mit staatlicher Kontrolle zu tun! Unsere Universität muss frei und selbstverantwortlich sein! Befreien wir sie also von der ministeriellen Bevormundung! Ein für alle Mal fordern wir Autonomie!“
Neben der Bildungspolitik beschäftigte sich Darcy Ribeiro nach wie vor mit dem Amazonas und zwar als Schriftsteller. Seine anthropologischen Erfahrungen verarbeitete er besonders in den Romanen Maíra und Wildes Utopia. Mit humoristischen und parodistischen Mitteln entlarvte er den Mythos von einem authentischen Brasilien, das aus einer natürlichen Verbindung der weißen, europäischen und der indigenen Tradition hervorgegangen sei, als Illusion.
Dieser außergewöhnliche „politische Aktivist und Intellektuelle“ – wie er sich selbst nannte – vermochte auch über den weiten brasilianischen Horizont hinaus an Lateinamerika zu denken und schuf in São Paulo ein Memorial de América Latina, ein riesiges, lateinamerikanisches Kulturzentrum, erbaut von einem anderen großen Brasilianer: Oscar Niemeyer.
„Wir folgen dabei Bolívars Idee von den vereinigten Staaten von Lateinamerika, von der moralischen, geistigen und kulturellen Einheit Lateinamerikas. Wir haben hier den Raum geschaffen, um alle Lateinamerikaner zu einander zu bringen, damit sie sich kennenlernen, sich gegenseitig studieren und auch mit den Europäern verbinden – in lateinamerikanischem Geist.“
1997 ist dieser einzigartige brasilianische Denker gestorben. Zu seinen Ehren wurde in der Universität von Brasilia eine eigene Gedenkstätte errichtet: das Memorial Darcy Ribeiro.
Quelle: Kalenderblatt, Deutschlandfunk 26.10.2022
Bild: Wikicommons