Brasiliens Aufbruch in die Moderne. Zum 100. Jahrestag der Semana de Arte Moderna

Am 13. Februar 1922 – heute vor einhundert Jahren – traf sich eine Gruppe von Kulturschaffenden im Teatro Municipal von São Paulo, um der Kultur Brasiliens neue Perspektiven in die Zukunft zu eröffnen. Dieses Ereignis ging als Semana de Arte Moderna in die Annalen ein und wird in diesem Jahr als Aufbruch in die Moderne im ganzen Land gefeiert. Der Förderkreis des IAIwird sie in einer eigenen Veranstaltungsreihe würdigen.       

Diese Woche der modernen Kunst war damals eigentlich eine sehr begrenzte Veranstaltung von ein paar Dutzend Künstlerinnen und Künstlern, Musikern und Schriftstellern. Und sie war bei Publikum und Medien sehr umstritten, denn sie bedeutete einen völligen Bruch mit der herrschenden Kultur. Er äußerte sich in ihrem berühmten Diktum „Tupí or not Tupí that is the question“, in der Hinwendung zu den brasilianischen, zu den indigenen Wurzeln.

Das Teatro Municipal in São Paulo, ihrem Versammlungsort, widersprach völlig diesem Konzept, denn es war ein der Pariser Opéra Garnier nachempfundener Musik- und Operntempel, ein neobarockes Gebäude, Symbol dieser „alten Kultur“, die es zu überwinden galt, war sie doch Ausdruck der wohlhabenden, bürgerlichen Schicht, die sich am Ausland, zumeist an Paris orientierte. In diesen Kreisen wurde gern Französisch parliert und bevorzugt französische Literatur, Musik und Kunst goutiert. Sogar die brasilianische Akademie der Künste war von einem Franzosen gegründet worden.

Zeitungsanzeige zum letzten Tag der Semana

Mit deren dogmatischem Akademismus, überhaupt dem angestaubten Kulturkonservatismus brach nunmehr diese junge Generation von Künstlerinnen und Künstlern wie Tarsila do Amaral oder Di Cavalcanti, von Schriftstellern wie Oswald und Mário de Andrade oder von Komponisten wie Heitor Villa-Lobos. Als ihre erste, gemeinsame Protestaktion veranstalteten sie die Semana de Arte Moderna.

Auch sie hatten ihre ersten Anregungen in Frankreich erhalten, allerdings von der Avantgarde, den Kubisten, die sie bei Aufenthalten in Paris kennengelernt hatten. Oswald de Andrade bekannte sogar: „In Paris habe ich Brasilien entdeckt.“ Denn viele von ihnen hatte den Kubismus und die afrikanischen Einflüsse erlebt, haben sie sich anverwandelt, nach Brasilien übertragen, die äußere Form mit brasilianischen Themen gefüllt.

Das Programm einer „Brasilidade“, das sie auf dieser Woche vorstellten, war ein Anschlag auf den kulturellen Status quo. Die konservativen Medien schäumten und bezeichneten die rebellischen Kulturschaffenden als „debile Schwachköpfe“ oder „vom Teufel besessene Futuristen“.

Auch das Publikum empörte sich. Schriftsteller wie Oswald de Andrade und sein Namensvetter Mario de Andrade wurden ausgebuht, weil ihre Gedichte nicht der klassischen Form entsprachen, keine strenge Lyrik waren, sondern freie Verse boten, Fragmentarisches, Gebrochenes und nicht selten auch Sozialkritisches.

 Doch trotz massiver Anfeindungen setzte sich die kulturelle Avantgarde allmählich in den 1920er und 30er Jahren durch. Und sie fand in den 1960er und 70er Jahren, inmitten der Militärdiktatur, im sog. Tropicalismo ihre Fortsetzung, sozusagen in einem zweiten Aufbruch. „Der Tropicalismo verbindet die E-Gitarre eines Jimmy Hendrix mit der schwarzen Kultur in Brasilien“ -hat Henry Thorau einmal definiert. „Denn das Thema der schwarzen Kultur war in den 1920er Jahren noch ignoriert worden. Das war zwar eine entscheidende Veränderung. Aber im Übrigen war der Tropicalismo ein Wiederaufflammen der Semana, unter neuen Vorzeichen, inhaltlich und formal.“

Seither wird die Originalität der brasilianischen Kultur, die sich damals herauskristallisierte, weltweit geschätzt. Nur der rechtsextreme Präsident Bolsonaro verleugnet dies und gefährdet besonders die Existenz der progressiven Ausdrucksformen durch den Abbau vieler Fördermaßnahmen und durch Zensur.          

                                                                                                                        Peter B. Schumann

Der Förderkreis des IAI würdigt dieses Jahrhundertereignis mit einer Reihe von Veranstaltungen von Ende April bis Ende Juli. Sie umfasst Diskussionen, Filmvorführungen, eine Ausstellung, ein Gesprächskonzert, eine szenische Lesung sowie ein Seminar und eine Ringvorlesung im LAI der Freien Universität. Das detaillierte Programm erscheint im April.

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