Ein Nachruf von Nikolaus Werz (Mitglied im ‚Förderkreis des IAI‘)
Omar Saavedra Santis lernten wir in der Kantine des Musikinstrumente Museums in Berlin kennen. Enrique Fernández hatte an diesem Tag die Gruppe der Bibliotheksbesucher zusammengeführt, die vom Ibero-Amerikanischen Institut über die Potsdamer Straße zum Mittagessen zog. Omar erkundigte sich genau und kenntnisreich nach den Verhältnissen in Rostock. Dies war überraschend, denn eigentlich interessierte sich damals in Berlin kaum jemand für die Stadt, wenn es nicht gerade um Vorfälle von Lichtenhagen 1992 ging oder um die halbstarken Auftritte der Fußballfans des FC Hansa. Saavedra allerdings verband keine schlechten Erfahrungen mit der Ostseestadt, in der er mit anderen exilierten chilenischen Künstlern und Schriftstellern in den 1970er Jahren in der Theatergruppe Teatro Lautaro am Volkstheater Aufnahme gefunden hatte.
Die Bibliothek als Lebensraum
Dieser Gang zum Mittagessen gehörte zu dem ritualisierten Tagesablauf von Omar, seitdem er von Rostock nach Berlin umgezogen war. Morgens kurz vor neun Uhr stand er vor der noch geschlossenen Tür des Büchertempels, anschließend setzte er sich immer auf denselben und vielleicht besten Platz in dem lichtdurchfluteten Lesesaal: vorne am Fenster rechts, abgetrennt durch ein Bücherregal zur linken und dahinter nur ein einzelner weiterer Arbeitsplatz. Über die Jahre hatte sich ein stilles und beinahe komplizenhaftes Einverständnis unter der verschworenen Gemeinschaft von Besuchern und Mitarbeitern eingestellt. Der Sitz war also gleichsam für ihn reserviert, häufig wurden ihm die Texte von hilfreichen Mitarbeitern an den Tisch gebracht.
Nach dem Essen verschwand er übrigens jeden Tag für eine knappe Stunde. Er machte, wie später Saavedra-Kenner enthüllten, eine Siesta in einem weniger frequentierten Teil der Staatsbibliothek, um dann gestärkt an seinen Platz zurückzukehren. Eingeweihte behaupten, diese Ruhezone habe sich im Bereich der sinologischen Literatur und sogar im Gebetsraum für Muslime befunden, aber niemand kann dies wirklich bestätigen. Wahrscheinlich handelte es sich um den Bereich, wo die Karten und Globen zu finden sind.
In seinem Roman Prontuarios y claveles (2011) hat er eine Figur ersonnen, die in der Bibliothek gegen Bezahlung Abschlussarbeiten für deutsche Kommilitonen verfasst. Aber dieser Kunstgriff dürfte frei erfunden sein, dafür sind die Studenten zu arm oder geizig und natürlich zu ehrlich. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass die meisten seiner Romane, Theaterstücke und Hörspiele dort entstanden sind. „Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt“, heißt es bei Jorge Luis Borges und Omar war in dieser Hinsicht ein gelehriger Schüler.
Von der Pazifikküste in die DDR
Omar Saavedra Santis wurde 1944 in Valparaíso geboren, das einigen als kulturelle Hauptstadt Chiles gilt. Seine Eltern lebten dort, unweit eines der Häuser des Schriftstellers und Nobelpreisträgers Pablo Neruda, La Sebastiana. In der Hafenstadt besuchte er die gleiche Schule wie die zwei wohl bekanntesten, ungleichen Söhne von Valparaíso: Der frei gewählte sozialistische Präsident Salvador Allende und sein Antipode, der Putschist und Diktator Augusto Pinochet. In der Zeit der Regierung der Volkseinheit (Unidad Popular) war Omar Chefredakteur der Tageszeitung El Popular, 1974 emigrierte er über die belgische Botschaft in die DDR.
Für Omar Saavedra sollte der Weg ins Exil der Weg zum Schriftsteller werden. Seine ersten Stücke und Publikationen erschienen in deutscher Sprache, manche liegen gar nicht auf Spanisch vor. Schnell wurde er zu einem genauen Beobachter der DDR-Gesellschaft. Auch wenn er das kleinere Deutschland, wie er es einmal genannt hat, mit Sympathie sah, sind ihm Besonderheiten und Defizite keineswegs entgangen. Blonder Tango, übrigens der erste Roman, in dem ein Chilene das Exil in der DDR beschreibt, heißt im Original Y qué hago yo en este país donde todos los gatos son rubios (Und was mache ich in einem Land, wo alle Katzen blond sind). Der Held des Romans, Rogelio, ist nach fünf Jahren Exil mutlos, unglücklich in eine natürlich blonde Frau verliebt und am Ende seiner Kräfte. Am Ostseestrand trifft er den Kommunisten, Spanienkämpfer und Mexiko-Emigranten Hiller, der ihn von seinen Selbstmordabsichten abbringt. Dieser ermahnt den Chilenen, weiterhin mit „fremden Augen“ auf die kleine deutsche Provinz zu schauen und darüber zu schreiben. Im Aufbau-Verlag wurde das Manuskript zunächst abgelehnt, schließlich veröffentlichte der Verlag Neues Leben das Buch. 1986 kam der DEFA-Spielfilm Blonder Tango in die Kinos und wurde 1987 mit dem DDR-Kritikerpreis ausgezeichnet. 1989 erhielt er den Kulturpreis der Hansestadt Rostock.
In Amerika und Europa: Das chilenische Exil
Die südamerikanischen Länder Argentinien, Chile und Uruguay bilden mit ihrer frühen Unabhängigkeit von Spanien Anfang des 19. Jahrhunderts und der danach einsetzenden europäischen Einwanderung in manchen Aspekten eine Verlängerung Europas. Dies gilt sowohl für die herrschenden Eliten als auch für die Gegeneliten. Chilenische Kommunisten und Sozialisten haben marxistische Klassiker und Theoretiker studiert und weiter entwickelt, seit den 1970er Jahren kam es dann in Europa und Deutschland zu einer verstärkten Rezeption von Anstößen aus Lateinamerika.
Das chilenische Exil weist dabei Besonderheiten auf. Chilenen wurden in beiden deutschen Gesellschaften aufgenommen, wobei die Zahl der chilenischen Flüchtlinge in der BRD von Anfang an größer war und weiter zunahm, da eine Reihe von der DDR in die BRD wechselte. Dabei besaßen die Genossen aus Chile im ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden eine besondere Position. Im Vergleich zu anderen Bewohnern des Staatssozialismus galten sie als bevorzugt und durften im Unterschied zu den Kubanern und Nicaraguanern in die BRD reisen. Dies erklärt sich u.a. daraus, dass sie spätestens mit der beginnenden Öffnung in dem südamerikanischen Land ihre Pässe in den chilenischen Konsulaten oder der Botschaft in Bonn verlängern mussten. Ost-Berlin hatte die diplomatischen Beziehungen nach dem 11. September 1973 sofort abgebrochen.
Unter den Chilenen in der DDR waren viele, die eigene Vorstellungen vom Sozialismus besaßen. Verglichen mit den kubanischen Arbeitern und den von der sandinistischen Regierung entsandten Nicaraguanern waren sie relativ unabhängig. Bekannt wurde der 1993 veröffentlichte Roman von Carlos Cerda Morir en Berlín (Deutsch: Santiago-Berlin, einfach). Cerda, der zunächst in Leipzig und dann in Ost-Berlin im Exil lebte und nach seiner Rückkehr nach Chile ein düsteres Bild der DDR-Gesellschaft zeichnete, war kurze Zeit Mitglied im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chiles und später ein scharfer Kritiker des Staatssozialismus. In der BRD war es vor allem der spätere chilenische Botschafter und internationale Erfolgsautor Antonio Skarmeta. Aber auch andere chilenische Schriftstellerinnen – darunter Roberto Ampuero, Jorge Edwards und vor kurzem Patricia Cerda – haben das Thema der deutschen Teilung aufgegriffen. Als 2009/10 über 20 Jahre friedliche Revolution und deutsche Einigung diskutiert wurde, befanden sich chilenische Autoren in einer privilegierten Position als Deutschlandexperten.
Warum beschäftigt sich ein exilierter Schriftsteller, der bis zu ihrem Ende in der DDR gelebt hat, mit Jorge Luis Borges und Ernst Jünger, so wie es Saavedra in einem seiner Schauspiele tat? Immerhin galten beide unter linken Intellektuellen in Deutschland eher als suspekt: Einmal wird in Lateinamerika stärker zwischen dem Schriftsteller und den politischen Äußerungen etwa des Argentiniers Borges unterschieden. Sowohl die Generation des magischen Realismus und noch mehr die jüngeren Schriftsteller haben die Verdienste von Borges für die lateinamerikanische und die Weltliteratur nie bestritten. Darüber hinaus können lateinamerikanische Autoren freier und souveräner mit der deutschen und europäischen Geschichte umgehen. Im Zuge der Globalisierung haben Schriftsteller wie der Mexikaner Jorge Volpi oder der Chilene Roberto Bolaño (1953-2003) in den letzten Jahren selbstbewusst Themen aus der deutschen Vergangenheit aufgegriffen und konnten damit Bucherfolge erzielen. Dies gilt für El Tercer Reich und den Roman 2666 von Bolaño.
Chile: Wirtschaft und Kultur im Neoliberalismus
Unter der Pinochet-Diktatur ab 1973 wurde die wirtschaftliche Öffnung mit autoritären Mitteln durchgesetzt. Nach der Re-Demokratisierung haben die Regierungen der Concertación ab 1989, d.h. einem Bündnis aus Christdemokraten und Sozialisten, diesen Kurs mit gewissen Korrekturen fortgesetzt. Auch unter den aus der Sozialistischen Partei hervorgegangenen Präsidenten Ricardo Lagos ab 2000 und seiner zweimaligen Nachfolgerin Michelle Bachelet ab 2006 hatte sich daran wenig geändert. Anfang der 1970er Jahre galt Chile als ein sozialistisches Experiment, später wurde es als Modell des Wirtschaftsliberalismus präsentiert. Der konservativ-liberale Präsident Sebastián Piñera, der 2010 die große Koalition ablöste, bezeichnete sein Land gern als Beispiel für den Rest der Welt. In seiner zweiten Amtszeit, wenige Tage vor dem Beginn der massiven Proteste von 2019, sprach er von Chile als einer Oase im aufgewühlten Meer Lateinamerikas.
Tatsächlich zeigt die chilenische Gesellschaft, dass ökonomisches Wachstum und kulturelle Blüte nicht unbedingt Hand in Hand gehen. Die Universitäten des Landes werden als die teuersten auf der ganzen Welt bezeichnet – im Vergleich mit dem mittleren Einkommen der Bevölkerung; über ihre Qualität gehen die Meinungen auseinander. Modern und gut geführt präsentierte sich die U-Bahn in der Hauptstadt Santiago; 2019 wurde sie als Symbol ungleicher Modernität zum Ziel der Rebellion. Die Carabinerosgalten als die effizientesten Ordnungshüter Südamerikas, die Studenten wussten indessen, dass bei Demonstrationen nicht mit ihnen zu spaßen war. Über 20 Tote nach den Protesten von 2019 und viele Menschen, die ein Augenlicht durch den Einsatz von Hartgummigeschossen verloren, sind ein trauriger Beleg dafür.
Weniger eindrucksvoll sind die Buchläden und Theater. „Lo que hace la cordillera – Was die Kordillere ausmacht“, sagte Omar Saavedra ein wenig wehmütig, wenn er von den Cafés, den Buchläden, Kinos, Theatern und Universitäten in Buenos Aires/Argentinien erzählte. Das moderne Santiago mag seine Schriftsteller nicht richtig oder es ist andersherum: Die von den Kollegen im Lande nur halbherzig geliebte Isabel Allende lebt seit Jahren in den USA, Roberto Bolaño hatte zeitlebens ein gespaltenes Verhältnis zu seinem Heimatland und starb im Ausland, der Romancier Jorge Edwards hat neben dem chilenischen noch einen spanischen Pass und vertrat zuletzt sein Land als Botschafter in Paris.
Regelmäßig traf sich Omar, der 2010 in sein Heimatland zurückkehrte, mit Kollegen im El Parrón, einem traditionsreichen Lokal in einem älteren Viertel von Santiago. Meist war dort auch der ehemalige Boxchampion, der am späten Abend den Gästen bewegte Geschichten von vergangenen Kämpfen erzählte, in der Hoffnung ein freies Getränk zu erhalten. Doch musste das Lokal und ein danebengelegenes Theater Anfang 2011 neuen Hochhäusern und Glastürmen weichen, die Dichter und Sportsfreunde machten sich auf die Suche nach einen neuen Versammlungsort. Es hieß, dass sie sich fortan um die Ecke in El Normandie versammelten.
Finanziell war seine Lage nicht einfach. 2020 wurde seine Fernsehserie Helga y Flora aufgeführt in der seine Tochter Catalina mitspielte, sie war durch den Film La Nana von 2009 einem breiteren internationalen Publikum bekannt geworden. Daneben publizierte er weiterhin Kurzgeschichten und Essays. Doch wurden er und die Exilliteratur in Chile nicht ausreichend zur Kenntnis genommen, so heißt es in dem Nachruf des Präsidenten des chilenischen Schriftstellerverbandes. Am 23. Dezember 2021 starb Omar Saavedra mit 77 Jahren in seiner Heimatstadt Valparaiso.
oto: Omar Saavedra (rechts) mit Nikolaus Werz in Valparaiso 2011 ©Enrique Fernandez
Ausgewählte Literatur
Anne Newball Duke, La otra orilla: Kulturkontakt in der chilenischen Exil- und Rückkehrliteratur 1980-2011, Münster 2018.
Martina Polster, Zweite Heimat DDR, Zweite Heimat BRD – Erfahrungen lateinamerikanischer Exilierter und Autoren im geteilten Deutschland, in: Sebastian Thies, Susanne Dölle, Ana María Bieritz (Hrsg.), ExilBilder. Lateinamerikanische Schriftsteller und Künstler in Europa und Nordamerika, Berlin 2005, S. 86-100.
Omar Saavedra Santis, Blonder Tango, Berlin 1983.
Ders., Magna diva. Die Oper der Mörder, Weimar 2003.
Ders., Omar Saavedra Santis, Prontuarios y claveles, Santiago 2011.
Ders., Borges tötet Jünger scheinbar ohne Motiv – Zweite Begegnung. Schauspiel, 2001.
Nikolaus Werz, Hinter der Mauer – Lateinamerika in der DDR, in: Detlev Brunner/Mario Niemann (Hrsg.), Die DDR – eine deutsche Geschichte. Wirkung und Wahrnehmung, Paderborn 2011, S. 445-464.